Название: Gesammelte Werke
Автор: Isolde Kurz
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
isbn: 9783962812515
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Es war ein wiederkehrender Zug in meinem Leben, dass in das »Neigen von Herzen zu Herzen« sich der Tod mischte. Hatte ich ihn in früher Jugend zu zärtlich angeblickt, als ich ihn so schön und ernst neben meinen frühsterbenden Lieblingshelden stehen sah, dass er nun immer in meiner Nähe sein wollte? Aber er suchte nicht mich, er wollte nur von mir verherrlicht sein. Und ich stand jedem dieser Toten mit einem bangen Schuldgefühl gegenüber, weil ich noch hatte, was er nicht mehr besaß, das atmende Leben. So als ob ich bei der Geburt von dem pulsenden Lebenselement mehr für mich gefasst hätte, als mir zukam, und es nun denen, die ich liebte, die mich liebten, immer wieder daran fehlen müsse.
An jenem Maitag, als ich über der Traueranzeige Ströme von Tränen weinte, legte Tatjana ihre Wange an die meine und weinte innig mit: Vous ne savez pas - je l’ai aimé aussi. Das edle Herz hatte sich von meiner Hinneigung mitreißen lassen, war aber liebevoll wie immer in den Hintergrund getreten.
Ein Menschenalter sollte vergehen, bis ich noch einmal den Namen nennen hörte, der in Rimini mein Herz bewegt hatte. Zugleich erfuhr ich auch von der Wirrung, die nach jenen Tagen in das Leben des ritterlichen Mannes störend eingriff; eine Wirrung, bei der er die ehrenhafteste Rolle spielte. Weibliche Nachstellungen von höherer Seite hatten ihn veranlasst, lieber als seiner Pflicht und Ehre zu fehlen, sich in eine kleine entlegene Garnisonsstadt versetzen zu lassen, wo ihn eine vielleicht durch Unlust und Widerwärtigkeit beförderte Krankheit schnell hinwegnahm. Er war der heißen Tränen, die um ihn flossen, wohl wert gewesen, und es war nicht grundlos, dass unter den vielen Begegnungen meines Lebens gerade diese flüchtige, ohne Fortsetzung gebliebene mir mit den zartesten, aber unverwischbaren Pastellfarben in der Seele haften blieb. – Bald ging nun auch das Verhältnis mit Tatjana zur Neige. Aus Russland kam die alte Fürstin, ihre Mutter, eine kleine dicke, äußerst sonderbare Frau, durch und durch ancien régime aus der Zeit der Leibeigenschaft und so unwissend wie es ihre Generation und ihr Stand mit sich brachten. Sie sprach ein sehr schlechtes Französisch, und Russisch konnte sie, wie ihre Töchter klagten, so gut wie gar nicht. Man hätte sie wie sie ging und stand in einen Roman Turgenjews oder einen frühen Tolstoi hineinstellen können. Die Wohnung neben der unsrigen wurde jetzt zu klein, der Schwiegersohn Potemkin kaufte weit draußen auf Mont’ Ughi um lächerlich geringen Preis die eben feilstehende historische Villa, wo die berühmte Verschwörung der Pazzi angezettelt worden war. Die alte Fürstin war zu dem ausgesprochenen Zwecke gekommen, sich mit der Verheiratung ihrer jüngeren Tochter zu beschäftigen. Diesem Plan war eine Freundschaft, die so viel Platz in Tatjanas Leben ausfüllte, hinderlich; sie beschränkte also unseren Umgang, der ohnehin bei der großen Entfernung und den damals noch unentwickelten Verkehrsverhältnissen nur schwer aufrechtzuerhalten war. Die Freundinnen sahen sich nur selten mehr in dem neuen Raum, noch seltener bei mir in dem alten. Tatjana war immer schwachen Willens gewesen, so durfte ich ihr nicht verargen, dass sie die herrschsüchtige Mutter zwischen uns beide treten ließ. Bald darauf wurde sie mit einem italienischen Diplomaten verlobt; der Zar hatte die Tochter des alten aber verarmten Fürstenhauses standesgemäß ausgestattet. Sie kam als Gesandtin an einen Balkanhof, was ihrer stillen, immer etwas menschenscheuen Art wenig entsprach. Wir tauschten nur noch seltene Briefe; da unser Bund auf keine geistige Gemeinschaft, nur auf herzliche Neigung und Vertrauen gegründet war, konnte er in der Ferne nicht anders als durch die zärtliche Erinnerung fortbestehen.
Aber nach meiner Erfahrung kann keine innerlich gute Saat, die einmal gegrünt hat, spurlos untergehen. Wenige Wochen vor Ausbruch des Weltkriegs, wer klopft da eines Tages in München an meine Tür? Sonja, die seit vierunddreißig Jahren für mich Verschollene. Die lange Zwischenzeit versank im Nu vor der lebendigen Gegenwart, wir standen uns gegenüber, als ob wir uns gestern verlassen hätten. Sie war ganz und vollständig die alte, mit der schönen Würde ihrer Haltung und der Wärme ihres Herzens, nur dass sich durch die blauschwarzen Flechten einige weiße Fäden zogen und dass ihre hohe Gestalt leise vom Leiden berührt war, über das sie mit den Worten: il faut bien que j’aie quelquechose ergeben hinwegging. Vor dem Reliefbild meiner Mutter und der Büste meines Balde brach sie in eine solche Flut von Tränen aus, dass ihr feines Tüchlein schnell durchgeweint war und ich nicht Ersatz genug herbeischaffen konnte, um sie zu trocknen. Sie weinte um meine Toten, als ob es ihre eigenen wären! In Ebenhausen wohnte sie mit Tatjana, die nicht sofort mitgekommen war, weil sie, einsam und menschenscheu geworden, zuvor wissen wollte, ob ich sie noch liebte. Beide Schwestern waren verwitwet und, wie ich sehen konnte, wieder in beschränkter Lebenslage wie ehedem, aber noch immer durch und durch fürstlich in Gesinnung und Wesen. Sonja, die immer geistiger gewesene, hatte sich’s nicht nehmen lassen, aus der Ferne meinen Weg zu verfolgen und sich sogar Bücher von mir zu kaufen, die sie ja nicht lesen konnte. Wir verbrachten ein paar schöne Nachmittage, Unvergessliches zurückrufend, teils bei ihnen auf dem Lande, teils in der Stadt bei mir, wo mein Jugendfreund Mohl aus den frühen Tübinger Tagen, der nach vierzig in Russland verbrachten Jahren in München Anker geworfen hatte, um seine letzten Jahre neben mir zu verleben, zu seiner Freude Gelegenheit hatte, wieder einmal russisch zu sprechen, und auch mein Ohr an die lang vergessenen Laute sich wieder gewöhnte. Nur zu bald wurden die beiden zugeflogenen lieben Vögel durch den Kriegsausbruch hinweggesprengt. Aber der von allen Seiten losbrechende blindwütige Völkerhass vermochte die wiederverbundenen Herzen nicht mehr zu trennen. Sonja, die Tätige, Getreue, war es, die meinen Postverkehr mit dem italienischen Freunde, der mir mein verwaistes Haus in Forte dei Marmi brüderlich betreute, solange es in ihrer Macht stand, vermittelte. Man behauptet so gern, dass nur ein Volk die Treue kenne. Sie ist eine Wunderblume, aber freilich eine seltene, die überall wächst, wo Menschen wohnen.
Nun muss ich das Steuer wieder drehen, um aus dem vorweggenommenen Jahr 1914 in die achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zurückzukehren.
Balde
Anfang 1882 neigte sich der kurze Lebenstag unseres Balde zum Ende. Vier Jahre lang hatte das damals noch so milde Klima von Florenz mit seinem kurzen sonnigen Winter und seinen gleichmäßig glühenden Sommern, die der Kranke in glückseliger Dankbarkeit am Golf von Spezia verbrachte, ihm die Widerstandskraft gestärkt. Unter Vögeln und Blattpflanzen, immer mit Alleinstudium beschäftigt, um den versäumten Schulunterricht СКАЧАТЬ