Название: Gesammelte Werke
Автор: Isolde Kurz
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
isbn: 9783962812515
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An meinen frühen literarischen Versuchen, die auch teilweise ihm zur Unterhaltung geschrieben waren, nahm er herzlicheren Anteil als die anderen Brüder; noch unlängst fand ich mit Rührung einen Stoß Blätter von seiner Hand mit Abschriften meiner damals entstandenen Märchen. Er war aber kein kritikloser Bewunderer, sondern sah mir scharf auf die Finger, denn er hatte sich bei seinem vielen Lesen ein sehr feines literarisches Unterscheidungsvermögen angeeignet. An seinem letzten Geburtstag war meine Kasse so leer, dass ich ihm nichts mehr kaufen konnte, deshalb schenkte ich ihm ein unentbehrliches Stück meines literarischen Rüstzeugs, das italienische Wörterbuch, das mir zu meinen Übersetzungen diente, mit der Absicht, mir von dem nächsten fälligen Honorar ein neues anzuschaffen. Er schrieb noch seinen Namen ein; zu der Neubeschaffung kam es nicht mehr, denn frühe genug fiel das kleine Werklein, das doch den Zweck erfüllt hatte ihm etwas Liebes zu tun, an mich zurück. Zerblättert und vergilbt wie es ist, erinnert es mich doch immer wieder an den kleinen Schmerz, da ich es opferte, und den großen, als es wieder mein wurde. Die Gestalt dieses jung verlorenen Bruders ist in mir nicht nur durch die geschwisterliche Liebe, sondern fast mehr noch durch eine tiefe künstlerische Freude lebendig geblieben. Ich habe seine zarte Schönheit in verschiedenen Gestalten meiner Dichtungen wieder aufleben lassen. So als Olaf Hansen in dem Roman »Der Despot« und vor allem in der Novelle »Genesung«, wo er mit seinen persönlichen Besonderheiten, wenn auch in erfundenen Verhältnissen und in einer anderen Umgebung dargestellt ist. Ich wollte ihn als Walter Friese mit dem Abenteuer auf der Lagune ein letztes holdes Glück finden lassen, wie dem Armen in der Wirklichkeit keines zuteil geworden ist. Ach, nur die Geschöpfe der Poesie dürfen am Glück sterben, von denen der Wirklichkeit fordert die Natur den herben Wegezoll.
Seine letzten Tage verschlingen sich mit einem andern Sterben zu einem besonders düsteren Ausschnitt aus meinen Erinnerungen.
*
Nach dem Wegzug meiner russischen Freundinnen hatte eine verwitwete Engländerin, Mrs. Helen Wilkinson, die Wohnung neben der unsrigen inne. Sie war eine Vierzigerin von schmiegsamem Wesen, dunkelhaarig, nicht hübsch, doch von gefälliger Erscheinung, und wusste sich auf eine taktvolle Weise den Menschen angenehm zu machen. Ich hatte sie schon zuvor als Patientin meines Bruders in einem der Nebenhäuser am Viale kennengelernt, wo sie an Diphtherie erkrankt und von ihrem Mädchen aus Ansteckungsfurcht im Stich gelassen worden war. Man hatte damals nicht so leicht wie heute Pflegerinnen und barmherzige Schwestern an der Hand; weil Not an Mann ging, hatte Edgar, der wusste, dass ich nicht furchtsam war, mich gebeten auf einige Tage hinüberzuziehen und ihr beizustehen. Bei dieser Gelegenheit schloss sie sich mir tiefbedürftig an, und wir pflegten uns auch nach ihrer Genesung noch häufig zu sehen. Sie war augenscheinlich eine Frau mit unglücklicher Vergangenheit, deren sie keine Erwähnung tat; man erfuhr nur später von ihren Landsleuten, dass ihr Gatte auf der Hochzeitsreise wahnsinnig geworden sei und den ganzen Rest seines Lebens im Irrenhaus verbracht habe. Katholikin, in einem englischen Kloster erzogen, wo es noch strenger herging als in den Klöstern katholischer Länder, hatte sie einen ungewöhnlich engen Horizont und äußerst beschränkte Kenntnisse auf allen geistigen Gebieten; man konnte kaum über irgendeinen höheren Gegenstand mit ihr sprechen, ohne von ihrer Unwissenheit überrascht zu werden. So hatte man ihr unter anderem vor ihrem Eintritt in die Welt aufs schärfste eingeprägt, ja der teuflischen lutherischen Erfindung keinen Glauben zu schenken, als ob jemals ein unwürdiger Papst auf Petri Stuhl gesessen hätte, und daran hielt sie auch gewissenhaft fest, was immer man ihr vom Gegenteil erzählen mochte. In späteren Lebensjahren spürt wohl niemand den Drang, solche kindliche Einstellungen berichtigen zu wollen, nachdem sie schon ein Menschenalter hindurch in einem denkschwachen Hirn genistet haben. Aber in den Zwanzigen hat man so viel Zeit und Kraft, dass man nirgends unmögliche Aufgaben sieht. Wir hatten also lange Auseinandersetzungen über diese und andere Fragen, wenn ich mich auch hütete irgend an ihre religiösen Dogmen als an ihre unverrückbare Grundlage zu rühren; diese waren mir immer und überall unantastbar. Nur auf geschichtlichem Boden suchte ich ihre Irrtümer zu widerlegen. Dafür gab sie mir ihre Literatur in die Hand, und mir grauste vor den Schrecknissen, worein die arme gequälte Seele schon im voraus für den Fall des geringsten Zweifels verstrickt und versponnen war. Jede Einrichtung hat ihre edlen und ihre unedlen Vertreter. Ich habe späterhin sehr verehrungswürdige katholische Geistliche kennengelernt, die meine damals von dem ganzen Stand gefasste Meinung gänzlich umstießen. Von den Beichtvätern meiner armen Helen Wilkinson muss ich sagen, dass sie leider zu der andern Gattung gehörten. Gegen die Anfechtungen ihres Blutes setzten sie ihr mit den härtesten Bußen zu, die ihren von Haus aus schwachen Kopf ins Wanken brachten und ihr hinfälliges Nervensystem bis zur Hysterie aufpeitschten. Als ich sie zuerst kennenlernte, schlief sie in keinem Bette, sondern auf einem niederen hölzernen Schragen, der neben ihrem Lager stand, nicht breiter als ein Sarg; sie durfte sich niemals ganz satt essen und trank dafür, um sich, wie sie meinte, bei Kraft zu halten, Tag und Nacht starken Tee. Dass ihr Beichtvater ihr, um sie von weltlichen Gedanken zu entwöhnen, die Brillantringe von den Fingern gezogen hatte, erzählte sie später zwar nicht mir, aber meiner Mutter. Als Edgar von dem Schragen hörte, schickte er ihn ohne weiteres zum Zusammenschlagen und Feueranzünden in die Küche, nötigte sie mehr Nahrung zu sich zu nehmen und untersagte ihr den Tee. Mit der Sicherheit seines Auftretens und seinem menschlichen Verstehen, nicht zuletzt mit seiner großen persönlichen Anziehungskraft СКАЧАТЬ