Название: Nichts ist wahr, alles ist erlaubt
Автор: Friedrich Nietzsche
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Klassiker der Weltliteratur
isbn: 9783843802970
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Wundererziehung. – Das Interesse in der Erziehung wird erst von dem Augenblick an große Stärke bekommen, wo man den Glauben an einen Gott und seine Fürsorge aufgibt: Ebenso wie die Heilkunst erst erblühen konnte, als der Glaube an Wunderkuren aufhörte. Bis jetzt glaubt aber alle Welt noch an die Wundererziehung: Aus der größten Unordnung, Verworrenheit der Ziele, Ungunst der Verhältnisse sah man ja die fruchtbarsten, mächtigsten Menschen erwachsen: Wie konnte dies doch mit rechten Dingen zugehen? Eine Erziehung, welche an kein Wunder mehr glaubt, wird auf dreierlei zu achten haben: Erstens, wie viel Energie ist vererbt? Zweitens, wodurch kann noch neue Energie entzündet werden? Drittens, wie kann das Individuum jenen so überaus vielartigen Ansprüchen der Kultur angepasst werden, ohne dass diese es beunruhigen und seine Einartigkeit zersplittern, – kurz, wie kann das Individuum in den Kontrapunkt der privaten und öffentlichen Kultur eingereiht werden, wie kann es zugleich die Melodie führen und als Melodie begleiten?
Alter, Krankheit und Tod
Alter und Krankheit werden für Nietzsche dann zu einem Problem, wenn sie ein sinnvolles und schöpferisches Leben nicht mehr zulassen. Die aktive und bewusste Entscheidung, sein Leben zu beenden, zeigt die Größe des Menschen. Nietzsche spaltet den Mensch in seine (alternde, verfallende, oft kranke) Kreatürlichkeit und sein Selbst, sein Wesen. Den körperlichen Verfall musste Nietzsche bereits früh und lange vor seiner geistigen Umnachtung am eigenen Leib erfahren, doch konnte er trotz der physischen Einschränkungen intellektuell weiterarbeiten. Hätte er den Verlauf seines rapiden Verfalls vorausgeahnt, wäre der Suizid eine wahrscheinliche Konsequenz gewesen. Ganz ohne Schrecken und ohne Angst, denn für Nietzsche gehört der Tod zum Leben, »hüten wir uns zu sagen, dass der Tod dem Leben entgegengesetzt sei.« Er ist die einzige Gewissheit in der Zukunft, doch keine, vor der man Angst haben muss. Denn nach Nietzsche folgt auf den Tod das »reine Nichts« (Karl Jaspers); damit wird auch die aus dem Glauben resultierende Angst vor möglichen Strafen oder der Hölle obsolet. Nietzsche geht sogar noch weiter: Die Angst vor dem Tod ist nicht nur ein Zeichen von Schwäche und einer Existenz, die ihren Zweck – nämlich ein kreatives, volles Leben zu führen – verfehlt, sondern sie perforiert die Lebenslust und -kraft des Menschen. So gelangt Nietzsche zu der Überzeugung, dass nur der Freitod über den natürlichen Tod triumphiert und die wahre Größe eines Menschen offenbart.
Reife des Mannes: das heißt den Ernst wiedergefunden haben, den man als Kind hatte, beim Spiel.
Greis und Tod. – Abgesehen von den Forderungen, welche die Religion stellt, darf man wohl fragen: Warum sollte es für einen alt gewordenen Mann, welcher die Abnahme seiner Kräfte spürt, rühmlicher sein, seine langsame Erschöpfung und Auflösung abzuwarten, als sich mit vollem Bewusstsein ein Ziel zu setzen? Die Selbsttötung ist in diesem Falle eine ganz natürliche naheliegende Handlung, welche als ein Sieg der Vernunft billigerweise Ehrfurcht erwecken sollte: Und auch erweckt hat, in jenen Zeiten als die Häupter der griechischen Philosophie und die wackersten römischen Patrioten durch Selbsttötung zu sterben pflegten. Die Sucht dagegen, sich mit ängstlicher Beratung von Ärzten und peinlichster Lebensart von Tag zu Tage fortzufristen, ohne Kraft, dem eigentlichen Lebensziel noch näher zu kommen, ist viel weniger achtbar. – Die Religionen sind reich an Ausflüchten vor der Forderung der Selbsttötung: Dadurch schmeicheln sie sich bei denen ein, welche in das Leben verliebt sind.
Man soll vom Leben scheiden wie Odysseus von Nausikaa schied, – mehr segnend als verliebt.
Das beste Heilmittel. – Etwas Gesundheit ab und zu ist das beste Heilmittel des Kranken.
Lehre aus Bildern. – Betrachtet man eine Reihe Bilder von sich selber, von den Zeiten der letzten Kindheit bis zu der der Mannesreife, so findet man mit einer angenehmen Verwunderung, dass der Mann dem Kinde ähnlicher sieht, als der Mann dem Jünglinge: Dass also, wahrscheinlich diesem Vorgange entsprechend, inzwischen eine zeitweilige Alienation vom Grundcharakter eingetreten ist, über welche die gesammelte, geballte Kraft des Mannes wieder Herr wurde. Dieser Wahrnehmung entspricht die andere, dass alle die starken Einwirkungen von Leidenschaften, Lehrern, politischen Ereignissen, welche in dem Jünglingsalter uns herumziehen, später wieder auf ein festes Maß zurückgeführt erscheinen: Gewiss, sie leben und wirken in uns fort, aber das Grundempfinden und Grundmeinen hat doch die Übermacht und benutzt sie wohl als Kraftquellen, nicht aber mehr als Regulatoren, wie dies wohl in den zwanziger Jahren geschieht. So erscheint auch das Denken und Empfinden des Mannes dem seines kindlichen Lebensalters wieder gemäßer, – und diese innere Tatsache spricht sich in der erwähnten äußeren aus.
Das Duell. – Ich erachte es als einen Vorteil, sagte jemand, ein Duell haben zu können, wenn ich durchaus eines nötig habe; denn es gibt allezeit brave Kameraden um mich. Das Duell ist der letzte übrig gebliebene, völlig ehrenvolle Weg zum Selbstmord, leider ein Umschweif, und nicht einmal ein ganz sicherer.
Stimmklang der Lebensalter. – Der Ton, indem Jünglinge reden, loben, tadeln, dichten, missfällt dem Älter gewordenen, weil er zu laut ist und zwar zugleich dumpf und undeutlich wie der Ton in einem Gewölbe, der durch die Leerheit eine solche Schallkraft bekommt; denn das meiste, was Jünglinge denken, ist nicht aus der Fülle ihrer eigenen Natur herausgeströmt, sondern ist Anklang, Nachklang von dem, was in ihrer Nähe gedacht, geredet, gelobt, getadelt worden ist. Weil aber die Empfindungen (der Neigung und Abneigung) viel stärker, als die Gründe für jene, in ihnen nachklingen, so entsteht, wenn sie ihre Empfindung wieder laut werden lassen, jener dumpfe, hallende Ton, welcher für die Abwesenheit oder die Spärlichkeit von Gründen das Kennzeichen abgibt. Der Ton des reiferen Alters ist streng, kurz abgebrochen, mäßig laut, aber, wie alles deutlich Artikulierte, sehr weit tragend. Das Alter endlich bringt häufig eine gewisse Milde und Nachsicht in den Klang und verzuckert ihn gleichsam: In manchen Fällen freilich versäuert sie ihn auch.
Die Gedanken über die Krankheit! – Die Phantasie des Kranken beruhigen, dass er wenigstens nicht, wie bisher, mehr von seinen Gedanken über seine Krankheit zu leiden hat, als von der Krankheit selber, – ich denke, das ist etwas! Und es ist nicht Wenig! Versteht ihr nun unsere Aufgabe?
Moral für Ärzte. – Der Kranke ist ein Parasit der Gesellschaft. In einem gewissen Zustande ist es unanständig, noch länger zu leben. Das Fortvegetieren in feiger Abhängigkeit von Ärzten und Praktiken, nachdem der Sinn vom Leben, das Recht zum Leben verloren gegangen ist, sollte bei der Gesellschaft eine tiefe Verachtung nach sich ziehen. Die Ärzte wiederum hätten die Vermittler dieser Verachtung zu sein, – nicht Rezepte, sondern jeden Tag eine neue Dosis Ekel vor ihrem Patienten … Eine neue Verantwortlichkeit schaffen, die des Arztes, für alle Fälle, wo das höchste Interesse des Lebens, des aufsteigenden Lebens, das rücksichtsloseste Nieder– und Beiseite-drängen des entartenden Lebens verlangt – zum Beispiel für das Recht auf Zeugung, für das Recht, geboren zu werden, für das Recht, zu leben … Auf eine stolze Art sterben, wenn es nicht mehr möglich ist, auf eine stolze Art zu leben. Der Tod, aus freien Stücken gewählt, der Tod zur rechten Zeit, mit Helle und Freudigkeit, inmitten von Kindern und Zeugen vollzogen: Sodass ein wirkliches Abschiednehmen noch möglich ist, wo der noch da ist, der sich verabschiedet, insgleichen ein wirkliches Abschätzen des Erreichten und Gewollten, eine Summierung des Lebens – alles im Gegensatz zu der erbärmlichen und schauderhaften Komödie, die das Christentum mit der Sterbestunde getrieben hat.
Der Gedanke an den Selbstmord ist ein starkes Trostmittel: Mit ihm kommt man gut über manche böse Nacht hinweg.
Was heißt Leben? – Leben – das heißt: Fortwährend etwas von sich abstoßen, das sterben will; Leben – das heißt: Grausam und unerbittlich gegen alles sein, was schwach und alt an uns, und nicht nur an uns, wird. Leben – das heißt also: Ohne Pietät gegen Sterbende, Elende und Greise sein? Immerfort Mörder sein? – Und doch hat der alte Moses СКАЧАТЬ