Название: Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke
Автор: Eduard von Keyserling
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
isbn: 9783962814601
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»Liebster Papa!« hieß es in dem Brief, »wenn Du dieses liest, bin ich schon weit von Dir, ich hoffe, nur für kurze Zeit. Sie wollen mich hier nicht mehr; gut! Ich gehe. Ambrosius und ich lieben uns innig, und niemand soll uns scheiden. Wenn wir unlöslich verbunden sind, kommen wir wieder und holen Dich ab, damit Du unser Glück teilst. Wenn ich daran denke, wie selig wir zusammenleben werden, möchte ich aufjauchzen. Agnes muss auch mit. Dass ich heimlich fortgehe, verzeihst Du mir, lieber – lieber Papa, es ist zu meinem Glück nötig, denn dass ich glücklich werde, das verspreche ich Dir. Viele tausend Küsse. Auf baldiges frohes Wiedersehen. Deine treue Tochter Rosa. Sonntag, den 25. September.«
Rosa machte einen hübschen, sorgsamen Schnörkel unter ihren Namen, faltete das Blatt zusammen, schrieb »an Papa« darauf, steckte es in die Tasche.
Es war vier Uhr. Wie fern der Abend noch war. In fünf Minuten konnte sich noch soviel Störendes ereignen. Rosa packte ihre Habe in den Reisesack, verschloss ihn und versteckte ihn unter ihrem Bett. Das Reisekleid, Hut und Mantel legte sie zurecht. Alles war bereit. Nun zog sie sich das Kleid, das sie anhatte, aus und legte sich auf ihr Bett. So war es noch am leichtesten, den Abend zu erwarten. Rosa hätte jetzt vieles erleben, tun, unternehmen mögen und musste stillehalten wie ein krankes Kind. Nebenan regte sich der Vater – seufzte tief auf – begann im Zimmer auf und ab zu gehen. Oh, den wollte Rosa glücklich machen – den armen Papa! – Jetzt schloss er den Kasten auf, um den schwarzen Rock hervorzuholen – jetzt bürstete er seinen Hut. Rosas Herz ward immer weicher, sie preßte ihr Gesicht in die Kissen und musste es sich immer wieder sagen, wie glücklich sie den armen Papa machen wollte.
Er kam an ihre Türe und steckte den Kopf in das Zimmer. »Schläfst du, Kind«, fragte er, »ich gehe fort.«
»Ja, ich schlafe.«
»Gut, Kind! Ich will dich nicht stören.« Er zog sich zurück.
»Adieu, Papa.«
»Adieu, adieu –« sagte Herr Herz schon im anderen Zimmer. Die Haustüre knarrte; er war fort.
Rosa stürzte an das Fenster, ihm nachzuschauen. Da ging er – fest in seinen schwarzen Rock eingeknöpft – eine schmale, kummervolle Gestalt.
Rosa musste zu Agnes gehen, um ihr zu sagen, dass sie kein Nachtmahl wolle und sich sogleich zu Bett legen werde. Sie fühlte wohl ein Bangen, das ihr Herz bedrückte, und eine tiefe Erregung, der sie nicht Raum geben wollte, schnürte ihr die Kehle zusammen, aber Reue oder Zaudern war das nicht. Mit peinlicher Gewissenhaftigkeit erfüllte sie jeden Punkt ihres törichten Planes.
Agnes saß am Küchentisch und las in ihrem Gesangbuche. In der Küche herrschte Sonntagsordnung. Durch das geöffnete Fenster sah man auf den leeren Hof hinaus und über die Nachbardächer hin, auf denen die roten Abendstrahlen sprühten. Agnes fuhr langsam mit dem Zeigefinger die Zeilen in ihrem Buche hinab und bewegte tonlos die Lippen. Als Rosa eintrat, blickte sie auf.
»Agnes, ich gehe schlafen. Ich mag kein Nachtmahl. Ich habe Kopfweh«, sagte Rosa hastig. Als sie das vorgebracht hatte, blieb sie doch noch am Küchentisch stehen, der tiefe Frieden hier erschütterte sie. –
»Was gibt’s denn?« fragte Agnes. »Bist du krank?«
»Nein. Es ist nichts!«
»Doch, ich bringe dich zu Bett«, beschloss Agnes und legte ein trockenes Kastanienblatt als Lesezeichen in das Gesangbuch. Rosa aber wollte davon nichts wissen: »Ich bin schon so gut wie ausgekleidet. Nur schlafen will ich«, rief sie und lief davon. – Noch eine Stunde, und dann – – –
Was war sonst eine Stunde, wenn sie zwischen einer Geschichts- und einer französischen Stunde lag! Und heute wollte sie nimmer verstreichen.
Einen kurzen Augenblick war Rosas Zimmer jäh von dem roten Licht der untergehenden Sonne erleuchtet gewesen – dieses Aufflackern ward dann zu einem mattgelben, gespenstischen Schein, der das Herz verzagt macht, wie niedergebrannte Kerzen am Schluss eines Festabends.
Im Nebenzimmer sperrte Agnes den Schrank zu, rückte die Sessel an die Wand. Die Küchentüre ward zugeworfen, ein schürfender Tritt stieg die kleine Treppe hinan, die nach oben führte – dann ward es still; Agnes war zur Ruhe gegangen.
Während die Dämmerung auf die kleinen Räume der Herzschen Wohnung niedersank, lag das stille Mädchen hastig atmend da und starrte mit weit offenen Augen auf das Stück bleichen Himmel, das vor ihr vom Fensterkreuz in gleichmäßige Tafeln zerschnitten ward. Langsam verhängte die Dunkelheit einen Gegenstand nach dem andern im Gemach, nahm Rosa Stück für Stück ihre Vergangenheit, um sie atemlos und zitternd vor Aufregung vor eine unklare, dunkle Zukunft zu stellen.
Ein Lichtstrahl blitzte auf und warf einen schmalen Goldstreif auf den Bettvorhang. Unten auf der Straße ward die Laterne angesteckt. Ein zweiter Lichtstreif glitt über die Zimmerdecke hin. Das war drüben die Lampe des Pfarrers; und nun schlug es neun Uhr, Rosa sprang auf, legte ihr Kleid an, tastete nach ihren Sachen. Es kam ihr der Gedanke: Wenn du es versäumtest? Wenn Ambrosius schon fort wäre? Sie nahm sich nicht die Zeit, den Mantel zuzuknöpfen, die Handschuhe anzuziehen, sondern stürmte fort. Leise durchschritt sie das Wohnzimmer, das nur spärlich von der Lampe erhellt wurde, die gegenüber an des Pfarrers Fenster stand; und es war Rosa, als müsse sie hier besonders behutsam auftreten, um den trauten Raum nicht aus seinem Schlummer zu wecken, in dem er zu liegen schien. Dann durch die Küche. Hier war es finster. Einige Heimchen schrillten am Herde. Ihr durchdringender Ton erschreckte Rosa; klang er nicht so eigensinnig jammernd, als riefen Agnes’ kleine Kameraden ihr etwas Traurig-Mahnendes zu? Vorsichtig schob sie den Riegel der Hintertüre zurück, schlich die Treppe hinab und stand auf der Straße.
Die Nacht war dunkel und voll heftigen Wehens. Schwarze, wildausgefranste Wolkenstücke wurden von Westen her über den Himmel getrieben, zwischen ihnen glomm hie und da ein grell СКАЧАТЬ