Ja, entschied er.
Vorsichtig öffnete er den Knoten und prägte sich dabei den Verlauf des Fadens ein. Dann schlug er das Tuch auf.
Ein Stück Schmuck war darin eingehüllt: Eine runde Goldbrosche, der die Anstecknadel fehlte. Er hielt sie ins Sonnenlicht – und starrte verblüfft in die funkelnden, dunkelblauen Tiefen eines Saphirs, der fast so groß wie sein Daumennagel war.
Plötzlich standen ihm die Nackenhaare zu Berge. Mit großen Augen drehte er sich um, aber niemand stand im Türrahmen.
Linch – oder der Mann, der sich Linch nannte – war nicht zurückgekommen. Matthew konnte von dort, wo er stand, auch niemanden die Straße herunterkommen sehen. Aber er hatte keinerlei Zweifel daran, dass sein Leben so kurz wie das einer von Rattenspieß aufgeschlitzten Ratte sein würde, wenn Linch ihn mit diesem märchenhaften Schmuckstück in der Hand überraschen würde.
Es war höchste Zeit, zu gehen. Zeit, das Haus zu verlassen, solange er noch konnte.
Allerdings musste er zuerst wieder die Brosche einwickeln und sie zurück in die Geldbörse stecken, die er dann exakt – ganz exakt – wieder so hinlegen musste, wie er sie vorgefunden hatte. Ihm zitterten die Hände. Es war schwierig, genau zu sein. Nachdem er die Geldbörse endlich an die richtige Stelle gelegt hatte, machte Matthew die Schublade wieder zu und wischte sich die feuchten Hände an der Hose ab.
Es gab noch mehr Schubladen, die er hätte durchsuchen können, und auch unter Linchs Schlafstelle mochte einiges zu finden sein. Aber sich im Haus noch länger umzusehen, hätte bedeutet, das Schicksal herauszufordern. Er ging zur Tür und wollte gerade das Haus verlassen, als er erschrocken entdeckte, dass er auf dem ansonsten strahlend sauberen Fußboden etwas Matsch vom durchweichten Vorgarten hinterlassen hatte.
Er bückte sich und versuchte, die Krümel mit der Hand aufzusammeln. Das meiste konnte er entfernen, aber ein verräterischer Striemen war immer noch zu sehen. Es gab keinen Zweifel daran, dass Linch die Entweihung seines Allerheiligsten bemerken würde.
In der Ferne begann eine Glocke zu läuten. Matthew, der immer noch mit Spucke an dem Fleck auf dem Boden rieb, wurde klar, dass der Wachmann am Tor die Ankunft eines Besuchers ankündigte. Er hatte getan, was er konnte. Der wenige Schmutz auf dem Boden war nichts im Vergleich zu dem Blut und Gedärm, das fließen würde, wenn Linch ihn hier ertappte. Er richtete sich auf, verließ das Haus, schloss die Tür und ließ den Riegel ins Schloss fallen.
Als Matthew sich auf der Fleißstraße auf den Rückweg machte, verstummte die Glocke. Er nahm an, dass der Neuankömmling durch das Tor gelassen worden war. Wenn es sich doch nur um einen Arzt handelte, der sich mehr auf Medizin als auf den Aderlass verstand!
Die Sonne wärmte ihm das Gesicht, und die leichte Brise umfächelte seinen Rücken. Trotzdem hatte Matthew das Gefühl, einen dunkleren oder kälteren Weg beschritten zu haben. Der Saphir in der Brosche musste ein kleines Vermögen wert sein – warum verdiente Linch sich dann mit dem Erstechen von Ratten den Lebensunterhalt? Und warum gab er sich so viel Mühe, sein wahres Wesen, das anscheinend Ordnung und Kontrolle liebte, hinter einer Fassade aus Schmutz zu verstecken? Matthew schien es, als ob Linch wollte, dass selbst sein Haus von außen heruntergekommen wirkte und an diesem Eindruck gearbeitet hatte.
Die Täuschungen, die in dieser Siedlung zu finden waren, überstiegen alles, was er erwartet hatte. Aber was hatte das mit Rachel zu tun? Linch war offensichtlich ein gebildeter, intelligenter Mann, der schreiben und Bücher zu theoretischen Themen lesen konnte. Die Brosche ließ vermuten, dass er wohlhabend war. Warum, um Gottes willen, spielte er der Welt eine solch widerliche Gestalt vor?
Und dann war da noch der Gesang. War Violet ins Haus der Hamiltons gegangen oder nicht? Wenn ja – warum war ihr nicht der abstoßende Gestank des toten Hundes aufgefallen? Und wenn sie es nicht betreten hatte – was für eine seltsame Macht hatte sie dann glauben lassen, dass sie drinnen gewesen war? Nein, selbst für seinen ans Nachdenken gewöhnten Verstand war das alles zu verwirrend. Am meisten beunruhigten ihn an Violets angeblichem Besuch in dem Haus der weißhaarige Kobold und die sechs Goldknöpfe am Mantel des Teufels, an die sie sich so gut erinnern konnte. Da Buckner und Garrick sich ebenfalls an die Knöpfe erinnerten, verfestigten sich dadurch die Beweise gegen Rachel.
Aber was hatte es mit dem Gesang des Rattenfängers im Nebenzimmer auf sich, in dem Matthew die Hündin mit ihren Welpen gefunden hatte? Man könnte natürlich sagen, dass Violet sich den Gesang eingebildet hatte – aber könnte man das dann nicht von ihrem gesamten Erlebnis sagen? Sie konnte sich jedoch an Details erinnern, die weder Buckner noch Garrick vorher erwähnt hatten!
Wenn Violet das Haus also tatsächlich betreten hatte: Warum hatte der Rattenfänger hinten im Dunkeln sein Liedchen gesungen? Und falls sie das Haus nicht betreten hatte: Warum glaubte sie dann so fest daran, dass sie es getan hatte? Und woher kamen die Details mit dem weißhaarigen Kobold und den sechs Goldknöpfen?
Matthew war über diesen Fragen dermaßen in Gedanken versunken, dass er sich dem Lager von Exodus Jerusalem näherte, ohne für den nächsten Schlagabtausch gewappnet zu sein. Doch der Wanderprediger hatte aufgehört, über Körperöffnungen zu sabbern: Jerusalem, seine drei Zuhörer, sowie seine angebliche Schwester und der sogenannte Bruder waren verschwunden und nirgendwo zu sehen. Allerdings fiel Matthew kurz darauf auf, dass in der Harmoniestraße irgendetwas vor sich ging. Er sah vier Planwagen, um die sich fünfzehn bis zwanzig Menschen geschart hatten. Die Zügel der vor den ersten Planwagen gespannten Pferde wurden von einem dünnen graubärtigen Mann gehalten, der einen grünen Dreispitz trug und sich mit Bidwell unterhielt. Matthew erspähte Winston, der gleich hinter seinem Brotherrn stand und sich die Mühe gemacht hatte, sich zu rasieren und saubere Kleidung anzuziehen. Winston war in ein Gespräch mit einem jungen blonden Mann vertieft, der zu dem Besucher mit dem grünen Dreispitz zu gehören schien.
Matthew ging auf einen in der Nähe stehenden Bauern zu. »Darf ich Euch fragen, was dieser Aufruhr bedeutet?«
»Die Maskenspieler sind gekommen«, sagte der Mann, der vielleicht noch drei Zähne im Mund hatte.
»Maskenspieler? Ihr meint Schauspieler?«
»Genau. Jedes Jahr kommen sie her und tragen ein Theaterstück vor. Allerdings haben wir sie erst später im Sommer erwartet.«
Matthew fand es erstaunlich, dass eine reisende Theatergruppe über genügend Beharrlichkeit verfügte, um die knochenerschütternde Straße zwischen Fount Royal und Charles Town in Angriff zu nehmen. Dann fiel ihm das Buch in Bidwells Bibliothek über englisches Theater ein, und ihm wurde klar, dass Bidwell für seine Bürger ein alljährliches Sommerfest auf die Beine gestellt hatte.
»Jetzt gibt's eine Gaudi!«, rief der Bauer aus. Sein grinsender Mund wirkte wie eine Höhle. »Am Morgen eine Hexenverbrennung und am Abend Theater!«
Matthew antwortete ihm nicht. Er beobachtete den graubärtigen Mann, der die Schauspielgruppe anzuführen und Bidwell nach dem Weg oder Instruktionen zu fragen schien. Der Stadtherr beriet sich kurz mit Winston, aus dessen Benehmen sich keinerlei Schlüsse ziehen ließen, dass er irgendetwas anderes als ein ergebener Bediensteter war. Nachdem die beiden sich beraten hatten, wandte Bidwell sich wieder an den bärtigen Mann und winkte in Richtung Fleißstraße. Matthew nahm an, dass Bidwell dem Mann sagte, wo die Schauspieler ihr Lager aufschlagen konnten. Gern würde er Eintrittsgeld zahlen, um Exodus Jerusalems Gedanken zu hören, wenn der Wanderprediger erfuhr, dass seine Nachbarn Schauspieler waren. Andererseits konnte sich Jerusalem durchaus ein paar Münzen dazuverdienen, indem er den Maskenspielern Schauspielunterricht gab.
Matthew ging weiter und machte um Bidwell und seinen СКАЧАТЬ