»Das haben Sie alles für das erste Kapitel vorgesehen?«, fragte Molly unangenehm berührt.
»Nein«, erwiderte Amigo, »das geht eigentlich schon darüber hinaus.«
»Und … haben Sie schon einen Namen für Ihre Heldin?«, wollte Molly mit belegter Stimme wissen.
»Molly«, sagte der Anrufer entschlossen. »Ja, ich werde sie Molly nennen.«
*
Harry betrachtete die Grappaflasche, die in Reichweite auf seinem Schreibtisch stand. Molly hatte sie ihm geschenkt. Eigentlich grundlos.
Es hatte keinen besonderen Anlass gegeben. Harry hatte weder Geburtstag gehabt, noch hatte es sonst irgendetwas zu feiern gegeben.
Molly hatte den goldbraunen Grappa einfach so für ihn im Internet bestellt. Weil sie gewusst hatte, dass er diese spezielle Marke gern mochte.
Er nahm die Flasche in die Hand und sah sich das schmucke Etikett genauer an. Aquileia. Italy. Provinz Udine. Zwölf Jahre im Eichenfass gereift. »Gran Riserva«.
Da ist ja fast nichts mehr drin, dachte er verwundert. Hab ich das alles getrunken?
»Wer sonst?«, murmelte er benebelt. Er wischte sich mit einer fahrigen Bewegung über die trüben Augen. »Ist ja außer dir keiner da … Ja, und warum ist das so? Weil meine liebe Molly …« Er unterbrach sich. »Meine liebe Molly? Ist sie das noch? Ist sie noch meine liebe Molly, nachdem sie …«
Es klopfte.
»Bin nicht zu Hause«, brabbelte Harry freudlos.
Es klopfte wieder.
»Ja!«, rief Harry zur Tür. »Wer ist da?«
»Vic.«
»Was willst du?«, fragte Harry mit schwerer Zunge.
»Mit dir reden.«
»Keine Zeit«, behauptete Harry. »Muss arbeiten.«
»Ich bleibe so lange hier stehen, bis du die Tür aufmachst«, sagte Victor Corran.
Harry brauste auf: »Verdammt noch mal, ich will niemanden sehen, bin beschäftigt, habe Termine einzuhalten. Verschwinde. Lass mich in Ruhe. Komm morgen wieder.«
»Warum morgen?«, fragte Victor Corran. »Weil du heute betrunken bist?«
»Ich bin doch nicht be …«
»Ich hör’s doch«, fiel Victor Corran seinem Freund ins Wort. »Mir kannst du nichts vormachen, Kumpel. Ich kenne dich zu gut. Du versuchst deinen Kummer im Schnaps zu ertränken, aber das funktioniert nicht, weil er leicht wie Öl ist und deshalb niemals untergeht. Da kannst du machen, was du willst. Er bleibt stets hässlich an der Oberfläche.« Er klopfte wieder. »Also was ist nun? Lässt du mich endlich rein oder nicht?«
Harry verzog das Gesicht, als hätte er Gallensaft im Mund. »Du gehst mir auf den Wecker.«
»Ja, ja, schon gut. Mach auf.«
Harry Baxter erhob sich. Der Raum begann sich zu drehen und der Boden schaukelte. Jetzt bekam Harry erst mit, dass er sich zu viel Grappa gegönnt hatte. Er schloss die Augen und schüttelte mehrmals den Kopf, als könne er den Schwindel damit beenden.
»Ich warte«, sagte Victor Corran ungeduldig.
»Ich komm ja schon«, antwortete Harry unwirsch. »Herrgott. Ein alter Mann ist kein Schnellzug.« Er öffnete die Tür.
»Hallo, alter Mann«, sagte Victor Corran grinsend. Er war so groß wie Harry, hatte dichtes dunkles Haar und trug ein weinrotes Blouson mit – weil’s zurzeit modern war – riesigen silbernen Lettern drauf: »Prime Division … Play Offs … Washington … Montreal». Mehr Platz war nicht. Sonst hätte da noch weiteres sinnloses Zeug gestanden. »Freut mich, dich in so guter Verfassung zu sehen«, sagte er ironisch.
»Sonst noch was?«, fragte Harry undeutlich.
»Darf ich eintreten?«
»Nein.«
»Vielen Dank.« Victor Corran betrat die kleine Wohnung, und Harry Baxter hinderte ihn nicht daran. Er schloss die Tür, sobald Victor an ihm vorbeigeschlendert war, versetzte ihr einfach einen mittelkräftigen Stoß und sie klappte zu. Harry und Victor waren schon im Sandkasten Freunde gewesen, hatten zusammen Sandkuchen gebacken und Burgen gebaut und sich gemeinsam gewehrt, wenn ihnen einer ein Kübelchen oder Schaufelchen wegnehmen wollte. Und sie waren über die Jahre hinweg Freunde geblieben. Victor zeigte auf die Flasche. »Grappa, hm?«
»Möchtest du einen?«
»Aber du trinkst nicht mit, okay?«, sagte Victor. »Du hast genug. Ich sehe den Schnaps schon in deinen Augen schaukeln.« Er bediente sich selbst und hob das Glas. »Cheers.« Er trank einen kleinen Schluck. »Nicht schlecht«, befand er. »Aber stark.« Er warf einen Blick auf die Flasche. »Fünfundvierzig Prozent.« Er stieß einen Pfiff aus. »Harter Stoff. Wolltest du die Pulle ganz allein leeren?« Er zog die Augenbrauen zusammen. »Sag mal, was bist du denn für ein Freund?«
»Was verschafft mir das Vergnügen, deines Besuchs?«, wollte Harry wissen.
Victor zuckte mit den Achseln. »Wollte nur mal sehen, wie es dir geht.«
»Mir geht es prima.«
Victor nickte. »Das sehe ich.« Er grinste. »Du schwebst auf Wolke sieben.« Er erzählte von seiner Begegnung mit Hetty Page, und es blieb natürlich nicht aus, dass er auch über Molly Stone sprach. Harry hatte nichts anderes erwartet, aber er beteiligte sich kaum an dem Gespräch, ließ Victor einfach reden.
Du langweilst mich mit deinem Monolog, Vic, dachte er, während der Sprachdurchfall seines Freundes kein Ende fand. Victor konnte ihm nichts Neues erzählen, und wenn der Freund behauptete, dass Molly und Harry unbedingt zusammen gehörten, dass sie wie kein anderes Paar füreinander geschaffen waren, dann hatte das – auch aus Harrys Sicht – durchaus seine Richtigkeit, aber er steckte in einer emotionalen Sackgasse und war noch nicht imstande, umzukehren. Doch er nahm immerhin – obwohl von zu viel Grappa reichlich beduselt – zur Kenntnis, dass ihm jemand ein nachgewiesen falsches Schreiben untergejubelt hatte.
Victor Corran blieb fast eine Stunde bei seinem Freund und bearbeitete ihn intensiv. Als er sich verabschiedete, sagte er: »Wird langsam Zeit, dass du wieder in die Gänge kommst. Findest du nicht?«
Harry zog schweigend die Schultern hoch und ließ sie wieder fallen. Er wirkte unschlüssig und antriebslos.
Victor tätschelte die Wange seines Freundes. »Alles klar?«
»Ja, alles klar«, antwortete Harry Baxter mit feuchten Lippen.
»Sind meine Worte auf fruchtbaren Boden gefallen?«
Harry nickte. »Das sind sie.« Er sagte das nicht bloß, damit Victor sich zufrieden gab.
»Okay.« Victor Corran atmete schwer aus. »Dann gehe ich jetzt.«
»Danke, dass du gekommen bist, СКАЧАТЬ