Wilhelm Meisters Wanderjahre — Band 3. Johann Wolfgang von Goethe
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СКАЧАТЬ von Unterrichteten und Laien wiederholen; von jenen aus Vorurteil und Bequemlichkeit, von diesen aus Gleichgültigkeit. Ein Vorhaben wie das ausgesprochene kann vielleicht nur in einer neuen Welt durchgeführt werden, wo der Geist Mut fassen muß, zu einem unerläßlichen Bedürfnis neue Mittel auszuforschen, weil es an den herkömmlichen durchaus ermangelt. Da regt sich die Erfindung, da gesellt sich die Kühnheit, die Beharrlichkeit der Notwendigkeit hinzu.

      Jeder Arzt, er mag mit Heilmitteln oder mit der Hand zu Werke gehen, ist nichts ohne die genauste Kenntnis der äußern und innern Glieder des Menschen, und es reicht keineswegs hin, auf Schulen flüchtige Kenntnis hievon genommen, sich von Gestalt, Lage, Zusammenhang der mannigfaltigsten Teile des unerforschlichen Organismus einen oberflächlichen Begriff gemacht zu haben. Täglich soll der Arzt, dem es Ernst ist, in der Wiederholung dieses Wissens, dieses Anschauens sich zu üben, sich den Zusammenhang dieses lebendigen Wunders immer vor Geist und Auge zu erneuern alle Gelegenheit suchen. Kennte er seinen Vorteil, er würde, da ihm die Zeit zu solchen Arbeiten ermangelt, einen Anatomen in Sold nehmen, der, nach seiner Anleitung, für ihn im stillen beschäftigt, gleichsam in Gegenwart aller Verwicklungen des verflochtensten Lebens, auf die schwierigsten Fragen sogleich zu antworten verstände.

      Je mehr man dies einsehen wird, je lebhafter, heftiger, leidenschaftlicher wird das Studium der Zergliederung getrieben werden. Aber in eben dem Maße werden sich die Mittel vermindern; die Gegenstände, die Körper, auf die solche Studien zu gründen sind, sie werden fehlen, seltener, teurer werden, und ein wahrhafter Konflikt zwischen Lebendigen und Toten wird entstehen.

      In der alten Weit ist alles Schlendrian, wo man das Neue immer auf die alte, das Wachsende nach starrer Weise behandeln will. Dieser Konflikt, den ich ankündige zwischen Toten und Lebendigen, er wird auf Leben und Tod gehen, man wird erschrecken, man wird untersuchen, Gesetze geben und nichts ausrichten. Vorsicht und Verbot helfen in solchen Fällen nichts; man muß von vorn anfangen. Und das ist's, was mein Meister und ich in den neuen Zuständen zu leisten hoffen, und zwar nichts Neues, es ist schon da; aber das, was jetzo Kunst ist, muß Handwerk werden, was im Besondern geschieht, muß im Allgemeinen möglich werden, und nichts kann sich verbreiten, als was anerkannt ist. Unter Tun und Leisten muß anerkannt werden als das einzige Mittel in einer entschiedenen Bedrängnis, welche besonders große Städte bedroht. Ich will die Worte meines Meisters anführen, aber merkt auf! Er sprach eines Tages im größten Vertrauen:

      "Der Zeitungsleser findet Artikel interessant und lustig beinah, wenn er von Auferstehungsmännern erzählen hört. Erst stahlen sie die Körper in tiefem Geheimnis; dagegen stellt man Wächter auf: sie kommen mit gewaffneter Schar, um sich ihrer Beute gewaltsam zu bemächtigen. Und das Schlimmste zum Schlimmen wird sich ereignen, ich darf es nicht laut sagen, denn ich würde, zwar nicht als Mitschuldiger, aber doch als zufälliger Mitwisser, in die gefährlichste Untersuchung verwickelt werden, wo man mich in jedem Fall bestrafen müßte, weil ich die Untat, sobald ich sie entdeckt hatte, den Gerichten nicht anzeigte. Ihnen gesteh' ich's, mein Freund, in dieser Stadt hat man gemordet, um den dringenden, gut bezahlenden Anatomen einen Gegenstand zu verschaffen. Der entseelte Körper lag vor uns. Ich darf die Szene nicht ausmalen. Er entdeckte die Untat, ich aber auch, wir sahen einander an und schwiegen beide; wir sahen vor uns hin und schwiegen und gingen ans Geschäft. — Und dies ist's, mein Freund, was mich zwischen Wachs und Gips gebannt hat; dies ist's, was gewiß auch Sie bei der Kunst festhalten wird, welche früher oder später vor allen übrigen wird gepriesen werden.""

      Friedrich sprang auf, schlug in die Hände und wollte des Bravorufens kein Ende machen, so daß Wilhelm zuletzt im Ernst böse wurde. "Bravo!" rief jener aus, "nun erkenne ich dich wieder! Das erstemal seit langer Zeit hast du wieder gesprochen wie einer, dem etwas wahrhaft am Herzen liegt; zum erstenmal hat der Fluß der Rede dich wieder fortgerissen, du hast dich als einen solchen erwiesen, der etwas zu tun und es anzupreisen imstande ist."

      Lenardo nahm hierauf das Wort und vermittelte diese kleine Mißhelligkeit vollkommen. "Ich schien abwesend", sprach er, "aber nur deshalb, weil ich mehr als gegenwärtig war. Ich erinnerte mich nämlich des großen Kabinetts dieser Art, das ich auf meinen Reisen gesehen und welches mich dergestalt interessierte, daß der Kustode, der, um nach Gewohnheit fertig zu werden, die auswendig gelernte Schnurre herzubeten anfing, gar bald, da er der Künstler selber war, aus der Rolle fiel und sich als einen kenntnisreichen Demonstrator bewies.

      Der merkwürdige Gegensatz, im hohen Sommer in kühlen Zimmern, bei schwüler Wärme draußen, diejenigen Gegenstände vor mir zu sehen, denen man im strengsten Winter sich kaum zu nähern getraut. Hier diente bequem alles der Wißbegierde. In größter Gelassenheit und schönster Ordnung zeigte er mir die Wunder des menschlichen Baues und freute sich, mich überzeugen zu können, daß zum ersten Anfang und zu später Erinnerung eine solche Anstalt vollkommen hinreichend sei; wobei denn einem jeden frei bleibe, in der mittlern Zeit sich an die Natur zu wenden und bei schicklicher Gelegenheit sich um diesen oder jenen besondern Teil zu erkundigen. Er bat mich, ihn zu empfehlen. Denn nur einem einzigen, großen, auswärtigen Museum habe er eine solche Sammlung gearbeitet, die Universitäten aber widerständen durchaus dem Unternehmen, weil die Meister der Kunst wohl Prosektoren, aber keine Proplastiker zu bilden wüßten.

      Hiernach hielt ich denn diesen geschickten Mann für den einzigen in der Welt, und nun hören wir, daß ein anderer auf dieselbe Weise bemüht ist; wer weiß, wo noch ein Dritter und Vierter an das Tageslicht hervortritt. Wir wollen von unsrer Seite dieser Angelegenheit einen Anstoß geben. Die Empfehlung muß von außen herkommen, und in unsern neuen Verhältnissen soll das nützliche Unternehmen gewiß gefördert werden."

      Viertes Kapitel

      Des andern Morgens beizeiten trat Friedrich mit einem Hefte in der Hand in Wilhelms Zimmer, und ihm solches überreichend, sprach er: "Gestern abend hatte ich vor allen Euren Tugenden, welche herzuerzählen Ihr umständlich genug wart, nicht Raum, von mir und meinen Vorzügen zu reden, deren ich mich wohl auch zu rühmen habe und die mich zu einem würdigen Mitglied dieser großen Karawane stempeln. Beschaut hier dieses Heft, und Ihr werdet ein Probestück anerkennen."

      Wilhelm überlief die Blätter mit schnellen Blicken und sah, leserlich angenehm, obschon flüchtig geschrieben, die gestrige Relation seiner anatomischen Studien, fast Wort vor Wort, wie er sie abgestattet hatte, weshalb er denn seine Verwunderung nicht bergen konnte.

      "Ihr wißt", erwiderte Friedrich, "das Grundgesetz unserer Verbindung; in irgendeinem Fache muß einer vollkommen sein, wenn er Anspruch auf Mitgenossenschaft machen will. Nun zerbrach ich mir den Kopf, worin mir's denn gelingen könnte, und wußte nichts aufzufinden, so nahe mir es auch lag, daß mich niemand an Gedächtnis übertreffe, niemand an einer schnellen, leichten, leserlichen Hand. Dieser angenehmen Eigenschaften erinnert Ihr Euch wohl von unsrer theatralischen Laufbahn her, wo wir unser Pulver nach Sperlingen verschossen, ohne daran zu denken, daß ein Schuß, vernünftiger angebracht, auch wohl einen Hasen in die Küche schaffe. Wie oft hab' ich nicht ohne Buch souffliert, wie oft in wenigen Stunden die Rollen aus dem Gedächtnis geschrieben! Das war Euch damals recht, Ihr dachtet, es müßte so sein; ich auch, und es wäre mir nicht eingefallen, wie sehr es mir zustatten kommen könne. Der Abbé machte zuerst die Entdeckung; er fand, daß das Wasser auf seine Mühle sei, er versuchte, mich zu üben, und mir gefiel, was mir so leicht ward und einen ernsten Mann befriedigte. Und nun bin ich, wo's not tut, gleich eine ganze Kanzlei, außerdem führen wir noch so eine zweibeinige Rechenmaschine bei uns, und kein Fürst mit noch so viel Beamten ist besser versehen als unsre Vorgesetzten."

      Heiteres Gespräch über dergleichen Tätigkeiten führte die Gedanken auf andere Glieder der Gesellschaft. "Solltet Ihr wohl denken", sagte Friedrich, "daß das unnützeste Geschöpf von der Welt, wie es schien, meine Philine, das nützlichste Glied der großen Kette werden wird? Legt ihr ein Stück Tuch hin, stellt Männer, stellt Frauen ihr vors Gesicht: ohne Maß zu nehmen, schneidet sie aus dem Ganzen und weiß dabei alle Flecken und Gehren dergestalt zu nutzen, daß großer Vorteil daraus entsteht, und das alles ohne СКАЧАТЬ