Название: Die Gefühle der Tiere
Автор: Peter Wohlleben
Издательство: Автор
isbn: 9783895668012
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Von wegen blöde Ziege!
Im Märchen »Tischlein deck dich!« der Gebrüder Grimm wird eine Ziege beschrieben, die mit den Söhnen eines Schneiders ein böses Spiel zu treiben scheint. Obwohl sie stets auf die beste Weide geführt wird, behauptet sie jeden Abend, Hunger zu haben (worauf die Söhne einer nach dem anderen aus dem Haus gejagt werden). Zu Zeiten, in denen Weideland knapp war, musste Futter vollständig verwertet werden. Und während Schafe treu und brav sämtliches Gras wie mit dem Rasenmäher gemäht abweiden, zupfen Ziegen hier ein Blättchen, da ein Kräutlein, und lassen manche Flecken gänzlich unangetastet. Das konnte den Besitzer schon einmal ärgerlich machen, weil die Tiere abends im Stall immer noch Hunger hatten, obwohl sie doch den ganzen Tag fressen durften. Ziegen sind tatsächlich sehr wählerisch, suchen die schmackhaftesten Pflanzen oder diejenigen, welche ihnen im Moment besonders gut tun. So können es ein Farn gegen Wurmbefall sein, etwas Rinde von Sträuchern zur Zufuhr von Mineralien oder besonders saftige Stauden gegen den Durst. Wo Artgenossen ihr Geschäft verrichtet haben, gehen sie schnurstracks vorbei, um sich nicht mit Parasiten zu infizieren. All dies trägt dazu bei, dass Ziegen gesund bleiben. Nur wenn der Mensch sie zwingt, wochenlang auf einer kleinen, eingezäunten Weide zu bleiben, bis der letzte Halm vertilgt ist, dann bleibt ihnen nichts anderes übrig, als in den sauren Apfel oder das verschmutzte Gras zu beißen. Und selbst dann ist ihr Drang zum gesunden Futter nicht zu bremsen. Im Gegensatz zu Schafen brechen Ziegen häufiger aus, um sich auf Nachbargrundstücken mit dem Notwendigen zu versorgen. Das bringt heutzutage nicht weniger Ärger als früher, und daher ist der Ausruf »blöde Ziege« bis heute im Gebrauch.
Und wenn es Mutterliebe gibt, warum dann nicht auch alle anderen Formen? Liebe zwischen Ehepartnern etwa. Ein Großteil der Vögel lebt monogam, etliche von ihnen sogar lebenslänglich mit einem einzigen Partner. Der bussardgroße Kolkrabe ist so ein Vertreter. Er sucht sich mit seiner Partnerin ein Revier und markiert es. Ohne Störung von außen wohnen beide lebenslang (das können mehr als 20 Jahre sein) darin und bleiben sich treu. Das war auch der Grund, weshalb sich diese Vögel in Mitteleuropa so leicht ausrotten ließen. Man brauchte nur einen Partner zu schießen, da der andere dann für den Rest seines Lebens allein blieb und sich so nicht mehr vermehren konnte.
Natürlich haben Biologen für diese enge Bindung eine Erklärung parat. Monogamie ist lohnend, wenn die Aufzucht der Jungen besonders aufwendig ist und längerfristig stabile Verhältnisse erfordert. Ist es beim Menschen nicht genauso? Diese Erklärung muss kein Widerspruch zum Phänomen der Liebe sein, ganz im Gegenteil. Für jede evolutionäre Notwendigkeit hat die Natur die passenden Befehle für das Unterbewusstsein zur Hand, Gefühle, die die Individuen zur optimalen Handlung aufrufen.
Im Falle einer erforderlichen stabilen Partnerschaft heißt der passende Befehl: Liebe! Wobei es einer der freundlichsten Gebote ist, die man sich vorstellen kann.
Trauer und Tod
Jedem Wesen auf diesem Planeten ist zu eigen, dass es sich grundsätzlich an sein Leben klammert. Dieser Lebenswille ist Basis für die Selbstbehauptung unter den zahllosen Konkurrenten der eigenen Art und auch fremden Arten. Wem dieser Wille fehlt oder abhandenkommt, geht im Getümmel der Konkurrenz unter und kann sich nicht mehr vermehren; umgekehrt ist derjenige besonders erfolgreich, der einen starken Drang hat, im Karussell der Evolution mitzuspielen.
Die heftigste Äußerung des Unterbewusstseins bei einer Bedrohung des Lebens ist die Todesangst. Kennt, wer Todesangst empfinden kann, zwangsläufig auch den Tod? Oder ist der Begriff irreführend und meint nur die Furcht vor dem Sterben? Was wie Wortklauberei aussieht, bedeutet einen gewaltigen Unterschied. Sterben ist Bestandteil des Lebens, allerdings ein besonders unangenehmer, der meist mit Hilflosigkeit, oft auch mit heftigen Schmerzen einhergeht. Den Eintritt einer solchen unumkehrbaren Situation mit allen Mitteln zu verhindern, ist primäre Aufgabe der Instinkte. Dass es ein Sterben gibt, weiß instinktiv jedes Wesen, welches zur Angst fähig ist. Denn in Augenblicken höchster Bedrohung (und nur dann) werden speziell für diesen Fall Leistungsreserven freigesetzt. Warum nur im Krisenfall? Die Überwindung der Mobilisationsschwelle, also der normalerweise höchstmöglichen Leistung, birgt durch die Überbeanspruchung viele Gesundheitsrisiken.
Im Falle einer tödlichen Bedrohung spielt das keine Rolle mehr, und so können etwa Menschen ihr Leistungspotenzial um beachtliche 30 Prozent steigern. (Nebenbei bemerkt, geht es um genau diese 30 Prozent beim Doping durch Sportler, die mit Medikamenten körpereigene Schranken durchbrechen.) In Todesgefahr werden also die letzten Reserven mobilisiert. Und das passende Wort des Unterbewusstseins lautet: Todesangst.
Der Tod hingegen ist ein Zustand des Körpers, in dem sämtliche Funktionen erloschen sind. Mit diesem Stadium scheidet ein Individuum aus dem evolutionären Wettbewerb aus, stellt keine Konkurrenz mehr dar und ist allenfalls als verwertbare Biomasse für spezialisierte Arten von Interesse. Für diesen Zustand, in dem das einzelne Wesen nicht mehr existiert, braucht es auch kein instinktives Erfassen. Wiewohl das Sterben eine wichtige Bedeutung hat, gilt dies nicht für den eigenen Tod. Auch das bewusste Auseinandersetzen mit den harten Fakten, welches einen entsprechenden Verstand voraussetzt, ist von der Natur scheinbar nicht gewollt. Der Verbrauch der dafür notwendigen Energie (oder die dadurch einsetzende psychische Lähmung) würde das Individuum im Überlebenskampf nur schwächen.
Wie das Gehirn Derartiges verhindert, wurde vor Kurzem beim grüblerischsten Wesen des Planeten entdeckt. Nathan DeWall und Roy F. Baumeister, zwei US-amerikanische Forscher, untersuchten an Studenten, warum wir nicht ständig Angst vor dem Tod haben. Dazu forderten sie die eine Gruppe auf, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen. Die andere Gruppe sollte an Zahnschmerzen denken. Anschließend legten sie allen Probanden Wortfragmente vor, die diese ergänzen mussten. Während die erste Gruppe daraus positive Begriffe formte, waren es in der zweiten Gruppe überwiegend negative. Das Ergebnis: Offensichtlich gleicht das Gehirn negative Gedanken an den Tod durch positive Gedanken aus, sodass sich das Wohlbefinden durch derartiges Trübsalblasen nicht verschlechtert. Gedanken an Zahnschmerzen, die zeitweise durchaus sinnvoll sind, werden dagegen nicht korrigiert.
Das gilt allerdings nur in Bezug auf das eigene Ableben. Der Tod naher Angehöriger ist eine ganz andere Sache. Gerade für in sozialen Verbänden lebende Arten spielt der Verlust eines Mitglieds sehr wohl eine Rolle für den eigenen Lebensweg. Wenn Mutter, Vater oder gar beide Elternteile sterben, so ist dies für ein Kind katastrophal. Immerhin wird es in unserer Gesellschaft aufgefangen, kann bei Verwandten oder im Heim aufwachsen, auch wenn es traumatisiert bleibt. Für andere Arten gibt es solche Ersatzlösungen nur in seltenen Ausnahmefällen. So kann der Verlust der Eltern für ein Jungtier den Tod bedeuten. Umgekehrt stürzt es ein Muttertier in ein emotionales Chaos, wenn das Kind stirbt. Hirschkühe, die ein Rudel anführen, verlieren die Leitfunktion nach dem Verlust ihres Kalbes. Warum, ist noch nicht geklärt, aber naheliegend: Die anderen Herdenmitglieder registrieren, СКАЧАТЬ