1.2. Transamazônica – unberührte Urwälder systematisch zerstört
Ab den 1970er Jahren wurde das brasilianische Amazonien wieder zum Zielpunkt einer Völkerwanderung. Der Bau der Transamazônica quer durch die bislang beinahe unberührten Urwälder führte zur Migration tausender Familien aus anderen Teilen Brasiliens nach Amazonien. Es wird erzählt, dass der damalige Präsident Emílio Garrastazu Médici, als er über den von Dürreperioden heimgesuchten Nordosten Brasiliens geflogen sei, durch die Flugzeugluke nach Norden geblickt und dabei ausgerufen habe: „Land ohne Leute für Leute ohne Land“. Amazonien war für den aus dem südlichsten Bundesstaat stammenden Präsidenten der Militärdiktatur ein „Land ohne Leute“. Er wusste nicht oder wollte es nicht wissen, dass Amazonien seit Jahrtausenden zwar mit einer sehr geringen Bevölkerungsdichte, aber dennoch bewohnt war. Aber Indios waren für den Präsidenten mit italienischen Vorfahren ohnehin keine echten Menschen und die Flussbewohner zählten nicht.
Die „Leute ohne Land“ waren die armen, von Großgrundbesitzern von Grund und Boden vertriebenen Familien des Nordostens, die meist sehr kinderreich waren. Es entsprach einem militärisch-geopolitischen Plan, gerade diese Familien in den Norden umzusiedeln. Ihre Söhne sollten die Kasernen füllen, die an strategischen Punkten der Transamazônica gleichzeitig mit dem Bau der Riesenstraße errichtet wurden. Amazonien war aus der Sicht der Militärs immer die Achillesferse für die nationale Sicherheit. Also gab es für Amazonien einen weiteren Slogan: „Integrar para não entregar“, was sinngemäß übersetzt bedeutet: „Integrieren, um (das Land) nicht (anderen) zu überlassen“. Es war nie klar ersichtlich, welche Macht des Planeten gemeint war, der Amazonien nicht überlassen werden dürfe.
Vielsagend ist hierzu der Bericht der Tageszeitung Folha de São Paulo vom 10. Oktober 1970 mit dem Titel „Médici setzt im Urwald den ersten Meilenstein der Transamazônica“:
General Médici stand gestern im Gemeindegebiet von Altamira, im Bundesstaat Pará, mitten im Urwald den Feierlichkeiten des Baubeginns der großen Überlandstraße Transamazônica vor, die Amazonien über mehr als 3000 Kilometer von Osten nach Westen durchschneiden wird, um diese Region mit dem Nordosten zu verbinden. Sichtlich gerührt verfolgte dabei der Präsident das Fällen eines 50 Meter hohen Baumes an der Trasse der zukünftigen Riesenstraße und enthüllte eine Gedenktafel (…), die am Stumpf eines Paranussbaumes mit etwa zwei Metern Durchmesser eingelassen ist und auf der geschrieben steht: Im Amazonasurwald an den Ufern des Xingu eröffnet der Präsident der Republik den Bau der Transamazônica in einem historischen Aufbruch zur Eroberung dieser gigantischen grünen Welt.
Inmitten der Leute von Altamira stand ich damals als junger Pater vor der Tribüne, die eigens für den Präsidenten, seine Frau und die Minister und andere Regierungsmitglieder errichtet worden war. Im Hintergrund noch die bezaubernde Kulisse des Regenwaldes. Nie habe ich es verstanden und ich werde es auch nie verstehen, wie der Präsident „sichtlich gerührt“ sein konnte, als er den majestätischen Paranussbaum, den König des Regenwaldes, donnernd und gleichzeitig ächzend in seiner Agonie zu Boden fallen sah. Unerklärlich der hysterische Applaus des Präsidenten und seines Gefolges! Die Gedenktafel am Baumstrunk spricht von der „Eroberung dieser gigantischen grünen Welt“. Diese „Eroberung“ wird durch das Fällen eines Urwaldriesen symbolisiert. Der Paranussbaum stirbt und Abermillionen von Bäumen aller Art werden ihm folgen. Was bedeutet „erobern“? Fällen, töten, niederschlagen, umhauen, verbrennen? Ein „sichtlich gerührter“ Präsident eröffnet den Untergang des Jahrtausende alten Waldes! Seltsamerweise ist das Fällen und Verbrennen des Waldes von diesem Augenblick an gleichbedeutend mit Entwicklung und Fortschritt.
Der amerikanische Dichter Joyce Kilmer starb 1918 am Ende des Ersten Weltkriegs im Alter von nur 31 Jahren in der zweiten Schlacht von Marne. Die Kugel eines Scharfschützen nahm ihm das Leben. Das ergreifende Gedicht Trees, eine Hymne auf den Baum als Gottes wunderschönes Geschöpf, beeindruckt mich sehr. Schwester Rebecca Spires, seit Jahrzehnten im Einsatz für die indigenen Völker in Amazonien, Mitschwester der ermordeten Dorothy Stang, hat es mir eines Tages geschickt, als Antwort auf einen Artikel, in dem ich Holzunternehmer anklagte, die in indigenes Land eindringen und Edelhölzer schlägern. Oft denke ich an diese Worte, wenn ich tausende Baumstämme sehe, die, illegal gefällt, tot am Boden liegen und auf den Abtransport warten. Wohin? Ich weiß es nicht.
I THINK that I shall never see
A poem as lovely as a tree.
A tree whose hungry mouth is prest
Against the sweet earth’s flowing breast;
A tree that looks at God all day,
And lifts her leafy arms to pray;
A tree that may in Summer wear
A nest of robins in her hair;
Upon whose bosom snow has lain;
Who intimately lives with rain.
Poems are made by fools like me,
But only God can make a tree.
Ich denke, dass ich nie sehen werde
Ein Gedicht so schön wie ein Baum.
Ein Baum, dessen hungriger Mund sich presst
An die üppige Brust der süßen Erde;
Ein Baum, der zu Gott blickt den ganzen Tag
Und seine grünen Arme emporhebt zum Gebet;
Ein Baum, der im Sommer bergen kann
Ein Nest von Rotkehlchen in seinen Haaren;
Auf dessen Busen Schnee gelegen ist;
Und der eng verbunden lebt mit Regen.
Gedichte werden gemacht von Toren wie mir,
Aber nur Gott kann schaffen einen Baum.
Bankkredite an die angesiedelten Familien hingen von der erfolgreichen Brandrodung ab. Der Wald mit all seinem natürlichen Reichtum wurde als „unentwickelt“ eingestuft. Unzählige Familien aus dem Nordosten Brasiliens vertrauten den Regierungsversprechen und zogen nach Norden, um der Dürre zu entkommen. Aber nur etwa 15 Prozent blieben. Alle anderen gaben auf, denn es fehlte an den infrastrukturellen Einrichtungen wie Schulen, Gesundheitsposten und Spitälern und entsprechenden Transportmitteln. Die Familien fühlten sich isoliert in einer Umgebung, die ihnen völlig fremd war. Frustriert traten die einen die Rückreise in den Nordosten an, die anderen zogen in die Kleinstädte, in denen sich über Nacht die Einwohnerzahl verdoppelte oder verdreifachte.
Die Militärregierung musste wohl oder übel das Misslingen des ersten Anlaufs der „Kolonisierung“ einsehen und investierte nunmehr in die Migration von Familien aus dem Südosten, aus Mittel- und aus Südbrasilien. Große Ländereien für Landwirtschaft und Viehzucht wurden in Aussicht gestellt. So begann die zweite Welle der Migration nach Amazonien, die mehr Erfolg hatte. Damit begann eine neue Epoche für diese Region. Waren bisher СКАЧАТЬ