Название: 2034
Автор: Stefan Koenig
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Zeitreise-Roman
isbn: 9783754185223
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Wärest du tot, murmelt die Stimme in meinem Unterbewusstsein, hättest du den Leichensack aus Vinyl nicht gerochen. Eine Leiche kann nicht riechen, oder kann sie?
Pit: „Was machen Sie nächsten Samstagabend, Verehrteste?“
Wenn ich tot wäre, kann ich dann wirklich hören, was Pit sagt? Und kann ich die Sprache der Lebenden, zu denen ich nicht mehr gehöre, dann noch verstehen? Ich höre doch (und verstehe) die Antwort der Ärztin, die jetzt sagt, dass sie nächstes Wochenende ihren Hund badet, der auch Pit heißt. Was für ein Zufall! … Worauf wieder alle lachen. Wenn ich tot bin, warum bin ich dann nicht entweder gefühllos oder in das blendend weiße Licht eingehüllt, von dem in Nahtod-Berichten so oft die Rede ist? Wo ist das Licht am Ende des Tunnels?
Wo bleibt das Auge Gottes? Und was habe ich zuletzt wirklich gesehen, wenn ich etwas gesehen habe?
Dann ist ein scharfes Reißen zu hören, und plötzlich bin ich in jenes weißes Licht eingehüllt, an das ich gerade gedacht habe. Es ist blendend hell wie die Sonne, wenn sie an einem Wintertag durch die Wolkendecke bricht. Ich versuche meine Augen schützend zusammenzukneifen, aber nichts passiert. Meine Lider gleichen Jalousien, deren Mechanik defekt ist.
Ein Gesicht beugt sich über mich, verdeckt einen Teil des grellen Lichts, das nicht von irgendeinem gleißend hellen Himmelskörper, sondern von in Reihen angeordneten Leuchtstoffröhren an der Decke über mir kommt. Das Gesicht gehört einem gut aussehenden jungen Mann von ungefähr fünfundzwanzig Jahren. Er sieht aus wie einer dieser Muskelmänner, die in Baywatch oder Melrose Place die Strände bevölkert haben. Jedoch geringfügig intelligenter. Eine Menge schwarzes Haar quillt unter seiner achtlos getragenen Chirurgenhaube hervor. Er trägt auch den dazu passenden Kittel. Seine Augen sind kobaltblau, genau die Farbe, auf die angeblich alle Frauen fliegen. Kleine Sommersprossen übersäen seine Wangen.
Ich stelle mir vor, dass sich gleich eine ganze Schar junger Medizinstudenten über mich beugt, um mich neugierig zu mustern, damit sie abends in ihrer Stammkneipe über mich ablästern können, von wegen alter Knochen mit Piercing an der Brustwarze und Tattoo auf der Leiste („Schuster bleib bei deinen Leisten, ha ha ha) und so weiter …
„He, Mann“, sagt der Baywatch-Athlet. Ihm gehört die dritte Stimme. „Dieser Kerl sieht wirklich wie Stephan Remmler aus! Vielleicht nicht mehr gerade der Jüngste …“ Er beugt sich tiefer über mich. Eines der flachen Bänder, mit denen sein grüner Kittel am Hals zugebunden wird, kitzelt mich an der Stirn. „… aber yeah, ich sehe die Ähnlichkeit. He, Stephan, sing uns was!“
Hilf mir!, ist es, was ich zu singen versuche, aber ich kann nur mit meinem starren Totenblick in seine dunkelbraunen Augen sehen; ich kann mich nur fragen, ob ich tot bin, ob die Sache wirklich so abläuft, ob es jedem so ergeht, nachdem die Pumpe versagt hat. Wenn ich noch lebe, wie kommt es dann, dass er nicht gesehen hat, wie meine Pupillen sich verengt haben, als das Licht sie getroffen hat? Aber ich weiß die Antwort darauf … glaube sie jedenfalls zu kennen. Sie haben sich nicht zusammengezogen. Deshalb ist das grelle Licht der Leuchtstoffröhren so schmerzhaft.
Das Kittelband kitzelt meine Stirn wie eine Feder.
Hilf mir!, kreische ich den Baywatch-Mucki-Man an, der vermutlich ein Assistenzarzt oder vielleicht bloß ein Medizinstudent ist. Hilf mir, bitte!
Meine Lippen zittern nicht einmal.
Das Gesicht des jungen Mannes weicht zurück, das Band kitzelt nicht mehr, und all dieses weiße Licht flutet durch meine Augen, die nicht wegsehen können, flutet direkt in mein wehrloses Gehirn. Das ist ein höllisches Gefühl, eine Art Vergewaltigung. Muss ich noch lange hineinstarren, werde ich blind, denke ich, und diese Blindheit wird eine Erleichterung sein.
KLACK! Das Geräusch des einrastenden Anschnallgurtes.
Jetzt beugt sich ein weiteres Gesicht in mein Blickfeld. Darunter ein weißer Kittel statt eines grünen, darüber ein üppiger, zerzauster orangeroter Haarschopf. Ausverkaufs-IQ, das ist mein erster Eindruck. Das kann nur Pit sein. Er trägt ein breites dämliches Grinsen zur Schau, die Art Grinsen, die ich als Oberstufen-Grinsen bezeichne, das Grinsen eines Jungen, der auf einem vergeudeten Bizeps die Tätowierung GEBOREN, UM BÜSTENHALTER ZU ZERREISSEN tragen sollte. Er erinnert mich zudem aber auch an jenen unsäglichen Ewig-Abiturienten-CDU-Zappel-Philipp-Großmaul-Amthor.
Wo haben mich diese Blödmänner aufgegabelt und wie haben Sie mich transportiert? In einem dieser hässlich-grauen Minnas der Pathologen?
„Stephan!“, ruft Pit aus. „Jesus, du siehst guuuut aus! Das ist echt ‘ne Ehre! Sing für uns, großer Junge! Sing, Stephan, sing um dein Leben!“
Irgendwo hinter mir erklingt die Stimme der Ärztin, kühl, nicht einmal mehr vorgebend, diese Possen amüsant zu finden: „Schluss jetzt, Pit.“ Dann in eine andere Richtung: „Was ist mit ihm passiert, Tim?“
Tims Stimme ist die erste Stimme – Pits Partner. Ihm scheint es etwas peinlich zu sein, mit einem Kerl zusammenzuarbeiten, der gerne Oliver Pocher wäre. „Ist im Impfzentrum zusammengeklappt, einfach vom Stuhl gefallen und war sofort mausetot, Herztod. Die Sanis meinen, so schnell könne eine Spritze nicht wirken, wie er vom Stuhl gesegelt wäre, vielleicht vorgeschädigt. Herzdruckmassage habe nicht gefruchtet. Wahrscheinlich hätte ihn sowieso bald irgendein kleiner Schock einfach umgehauen.“
Noch einmal rekapituliere ich: Ich liege hilflos und starr in einem Leichensack, wahrscheinlich in einem Autopsie-Raum. Irgendwelche Idioten erlauben sich Scherze auf meine Kosten, und ich glaube, dass ich atme, aber es nicht merke. Wie sollen es da die Knallköpfe merken, die mich für Stephan Remmler halten? Nur die Aufschnitt-Ärztin („Dürfen es 50 Gramm Aufschnitt mehr sein?“) scheint noch einen Funken Respekt vor meiner Leiche zu haben.
Pit schaut noch immer auf mich herab, blöde und fasziniert. Nicht mein Tod interessiert ihn, sondern meine Ähnlichkeit mit TRIO-Sänger Stephan Remmler. Oh ja, ich bin mir dieser Ähnlichkeit bewusst, bin nicht darüber erhaben gewesen, sie bei bestimmten Gesangsgelegenheiten auszunützen. Ansonsten ist nicht viel damit anzufangen. Und unter diesen Umständen … mein Gott!
„Wer hat den Totenschein ausgestellt?“, fragt die Ärztin.
„Der Impfarzt, Dr. Widuweit, und der herbei gerufene Kollege, ein Notarzt namens Dr. Schlauer. Die beiden haben ihm die Absolution zur Himmelfahrt erteilt“, sagt Tim und blickt dabei kurz auf mich herab. Mindestens zehn Jahre älter als Pit. Schwarzes, an einigen Stellen grau meliertes Haar. Brille.
Wie kommt’s, dass keiner dieser Leute sehen kann, dass ich nicht tot bin?
„Das hier ist Schlauers Unterschrift auf Seite eins … sehen Sie?“, fährt Tim fort.
Das Rascheln von Papier, dann: „Jesus, Maria und Josef! Schlauer! Den kenne ich. Der hat Noah untersucht, nachdem die Arche am Berg Ararat gestrandet war.“
Pit sieht nicht so aus, als habe er den Scherz verstanden, aber er lacht mir trotzdem schallend ins Gesicht. Ich rieche Zwiebeln in seinem Atem, ein kleiner Rest Mundgeruch von einem Döner, und wenn ich Zwiebeln riechen kann, muss ich atmen. Das muss ich, nicht wahr? Wenn ich nur …
Bevor ich diesen Gedankengang zu Ende bringen kann, beugt Pit sich noch tiefer über mich, und mich durchzuckt ein Hoffnungsstrahl. Er hat etwas gesehen und will mich mit Mund-zu-Mund-Beatmung wieder beleben. Gott segne dich, Pit! Gott segne dich und deinen Zwiebel-Atem!
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