Название: Ein feines Haus
Автор: Emile Zola
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Die Rougon-Macquart
isbn: 9783754188521
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»Ich habe kaum hundert Seiten gelesen«, sagte sie schließlich. »Meine Eltern sind gestern gekommen.« Und sie sprach mühsam mit einem bitteren Geschmack im Mund: Als sie noch jung war, hätte sie gern tief in den Wäldern gewohnt. Immerzu hatte sie davon geträumt, sie träfe einen Jäger, der in sein Horn stieß. Er war näher gekommen und vor ihr in die Knie gesunken. Das war in einem Dickicht geschehen, in weiter Ferne, wo Rosen blühten wie in einem Park. Darauf waren sie mit einem Mal miteinander vermählt gewesen, und dann hatten sie ewig lustwandelnd dort gelebt. Sie war sehr glücklich gewesen und hatte sich nichts weiter gewünscht. Mit der Zärtlichkeit und Ergebenheit eines Sklaven hatte er ihr zu Füßen gelegen.
»Heute morgen habe ich mit Ihrem Mann gesprochen«, sagte Octave. »Sie gehen nicht genug aus, und ich habe ihn bewogen, Sie ins Theater zu führen.«
Aber sie schüttelte den Kopf, ein Schauer ließ sie erblassen. Es trat Schweigen ein. Sie fand sich in dem engen Eßzimmer mit seinem kalten Tageslicht wieder. Das Bild des mürrischen und korrekten Jules hatte jäh seinen Schatten auf den Jäger aus den Liedern, die sie sang, geworfen, auf den Jäger, dessen fernes Horn stets in ihren Ohren ertönte. Zuweilen horchte sie: vielleicht kam er. Ihr Mann hatte niemals ihre Füße in seine Hände genommen, um sie zu küssen; auch war er niemals niedergekniet, um ihr zu sagen, daß er sie anbete. Jedoch liebte sie ihn sehr; aber sie wunderte sich, daß die Liebe nicht mehr Süße in sich barg.
»Sehen Sie, mir benimmt es den Atem«, sagte sie, auf das Buch zurückkommend, »wenn in den Romanen Stellen vorkommen, wo die Leute einander Liebeserklärungen machen.«
Zum ersten Mal hatte sich Octave hingesetzt. Er hätte beinahe gelacht, da er gefühlsseligen Liebeleien wenig Geschmack abgewinnen konnte.
»Ich«, sagte er, »ich verabscheue leere Redensarten ... Wenn man füreinander schwärmt, ist es am besten, sich das sofort zu beweisen.«
Aber sie schien nicht zu begreifen, ihr Blick war klar.
Er streckte die Hand aus, streifte ihre Hand, beugte sich, um sich eine Stelle im Buch anzusehen, so weit zu ihr hinüber, daß sein Atem ihr durch den auseinanderklaffenden Morgenrock die Schulter wärmte, und ihr Fleisch blieb tot. Da stand er auf, von einer Geringschätzung erfüllt, in der auch etwas Mitleid lag.
Als er aufbrach, sagte sie noch: »Ich lese sehr langsam, vor morgen werde ich nicht fertig sein ... Morgen wirdʼs aber Spaß machen! Kommen Sie abends herein.«
Gewiß, er hatte nichts weiter mit ihr im Sinne, und dennoch war er in Aufruhr versetzt. In ihm entstand eine seltsame Freundschaft für dieses junge Ehepaar, das ihn aufbrachte, so blödsinnig kam es ihm dem Leben gegenüber vor. Und in ihm reifte der Gedanke, den beiden gegen ihren Willen gefällig zu sein: er würde sie zum Abendessen mitnehmen, würde sie betrunken machen, würde seinen Spaß daran haben, wenn sie sich einander an den Hals hängten. Wenn ihn diese Anwandlungen von Güte überkamen, dann warf er – der sonst keine zehn Francs verliehen hätte – das Geld leidenschaftlich gern zum Fenster hinaus, um zwei Verliebte aneinanderzuketten und ihnen Glück zu schenken.
Im übrigen brachte die Kälte der kleinen Frau Pichon Octave wieder auf die feurige Valérie zurück. Die würde sich bestimmt nicht zweimal über den Nacken blasen lassen. Er machte Fortschritte in ihren Gunstbezeigungen: als sie eines Tages vor ihm die Treppe hinaufstieg, hatte er ein Kompliment über ihr Bein gewagt, ohne daß sie böse zu sein schien.
Endlich bot sich die Gelegenheit, auf die er so lange gelauert. Es war an dem Abend, an dem er eigentlich zu Marie gehen wollte, wie er es ihr versprochen hatte: sie würden allein sein, könnten über den Roman plaudern, ihr Mann sollte erst sehr spät heimkommen. Aber von Entsetzen bei dem Gedanken an diesen literarischen Schmaus gepackt, war der junge Mann lieber ausgegangen. Dennoch wagte er sich gegen zehn Uhr hin, da traf er auf dem Treppenflur des ersten Stocks Valéries Dienstmädchen, das mit verstörter Miene zu ihm sagte:
»Madame hat einen Nervenanfall, der gnädige Herr ist nicht da, die Leute gegenüber sind alle im Theater ... Kommen Sie, ich flehe Sie an. Ich bin allein, ich weiß nicht, was ich machen soll.«
Valérie lag mit starren Gliedern ausgestreckt in einem Sessel ihres Schlafzimmers. Das Dienstmädchen hatte ihr das Korsett aufgeschnürt, aus dem der Busen hervorquoll. Übrigens ließ der Anfall fast sofort nach. Sie schlug die Augen auf, wunderte sich, daß sie Octave erblickte, benahm sich im übrigen wie in Gegenwart eines Arztes.
»Ich bitte Sie um Verzeihung, mein Herr«, murmelte sie mit noch immer erstickter Stimme. »Das Mädchen ist erst seit gestern bei mir, und sie hat den Kopf verloren.«
Die vollkommene Ruhe, mit der sie ihr Korsett ablegte und ihr Kleid wieder zunestelte, setzte den jungen Mann in Verlegenheit. Er blieb stehen, schwor sich, nicht so fortzugehen, wagte jedoch nicht, sich zu setzen. Das Dienstmädchen, dessen Anblick sie zu reizen schien, hatte sie hinausgeschickt; dann war sie zum Fenster gegangen, um die von draußen eindringende kalte Luft tief einzuatmen, wobei sie den Mund in langem nervösem Gähnen weit aufriß.
Nach einem Schweigen begannen sie beide zu plaudern.
Das habe sie mit ungefähr vierzehn Jahren bekommen, Doktor Juillerat sei es müde, an ihr herumzudoktern; bald habe sie es in den Armen, bald im Kreuz. Kurzum, sie gewöhne sich daran; das sei schließlich egal, wo doch bestimmt niemand ganz gesund sei.
Und während sie sprach und ihre Glieder schlaff waren, geriet er bei ihrem Anblick in Erregung, sie wirkte herausfordernd auf ihn mit ihrem unordentlichen Aufzug, mit ihrem bleifarbenen Teint, ihrem Gesicht, das von dem Anfall verzerrt war wie von einer langen Liebesnacht. Hinter der schwarzen Woge ihres aufgelösten Haars, das ihr auf die Schultern herabfloß, glaubte er den armseligen und bartlosen Kopf des Ehemanns zu sehen. Da streckte er die Hände aus und wollte sie mit der brutalen Gebärde, mit der er eine Dirne gepackt hätte, nehmen.
»Nanu, was denn?« sagte sie mit höchst überraschter Stimme. Nun betrachtete sie ihn ihrerseits mit so kalten Augen und ohne jede Erregung, daß er sich zu Eis erstarrt fühlte und seine Hände mit linkischer Langsamkeit wieder sinken ließ, weil er einsah, wie lächerlich seine Gebärde war. Dann setzte sie mit einem letzten nervösen Gähnen, das sie im Keime erstickte, langsam hinzu: »Ach, lieber Herr, wenn Sie wüßten!« Und ohne böse zu werden, zuckte sie die Achseln, war gleichsam zermalmt von dem Gefühl der Verachtung und des Überdrusses für den Mann.
Als Octave sah, wie sie, ihre nur lose zugebundenen Röcke nachschleifend, auf einen Klingelzug zuging, glaubte er, sie entschließe sich, ihn hinauswerfen zu lassen.
Aber sie verlangte bloß Tee; und sie bestellte ihn sehr leicht und sehr heiß.
Völlig aus der Fassung gebracht, stotterte er herum, entschuldigte sich, gelangte zur Tür, während sie sich erneut tief in ihren Sessel ausstreckte mit der Miene einer fröstelnden Frau, die ein heftiges Schlafbedürfnis verspürt.
Auf der Treppe blieb Octave bei jedem Stockwerk stehen. Also liebte sie das nicht? Er hatte soeben gespürt, daß sie gleichgültig war, ohne Begierde und ohne Auflehnung, ebensowenig gefügig wie seine Chefin, Frau Hédouin. Warum sagte Campardon, sie sei hysterisch? Es war albern, daß er ihn durch Erzählen dieser dummen Geschichte getäuscht hatte; denn ohne die Lüge des Architekten hätte er ein solches Abenteuer niemals riskiert. Und er war ganz benommen über diesen Ausgang, verwirrt in seinen Ansichten über die Hysterie und mußte an die Geschichten denken, die erzählt wurden. Trublots Bemerkung fiel ihm wieder ein: bei diesen verdrehten Weibern, deren Augen wie glühende Kohlen leuchteten, wisse man nicht, woran man sei.
Ärgerlich auf die Frauen, dämpfte Octave oben das Geräusch seiner Stiefeletten. СКАЧАТЬ