Название: Fjodor Dostojewski: Hauptwerke
Автор: Fjodor Dostojewski
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783754189153
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Er stand ein Weilchen da, und (seltsam!) auf einmal schien es ihm, als ob der Rand eines Rouleaus ein wenig zur Seite geschoben und Rogoschins Gesicht einen Augenblick sichtbar würde und sofort wieder verschwände. Er wartete noch eine kurze Zeit und wollte schon hingehen und noch einmal klingeln, änderte aber dann seine Absicht und verschob es um eine Stunde: »Wer weiß«, dachte er, »vielleicht ist es mir nur so vorgekommen ...« Vor allen Dingen eilte er jetzt nach der Ismailowskaja-Straße, nach der Wohnung, welche Nastasja Filippowna noch unlängst innegehabt hatte. Es war ihm bekannt, daß sie, als sie auf seine Bitte vor drei Wochen aus Pawlowsk weggezogen war, sich in der Ismailowskaja-Straße bei einer früheren guten Bekannten von ihr einquartiert hatte, einer Lehrerwitwe und achtbaren Familienmutter, die einen Teil ihrer Wohnung gut möbliert weitervermietete und davon fast ganz lebte. Das Wahrscheinlichste war, daß Nastasja Filippowna, als sie wieder nach Pawlowsk übersiedelte, die Wohnung weiterbehalten hatte; wenigstens war sehr wahrscheinlich, daß sie jetzt in dieser Wohnung übernachtet hatte, wohin sie gestern wohl von Rogoschin gebracht worden war. Der Fürst nahm eine Droschke. Unterwegs kam ihm der Gedanke, daß er hiermit hätte anfangen sollen, da es unwahrscheinlich sei, daß sie in der Nacht direkt zu Rogoschin gefahren wäre. Dabei mußte er auch an die Bemerkung des Hausknechts denken, daß Nastasja Filippowna nicht häufig ins Haus gekommen sei. Wenn sie überhaupt nicht häufig hinkam, aus welchem Grund sollte sie dann gerade jetzt bei Rogoschin eingekehrt sein? Indem er sich mit diesen Tröstungen ermutigte, gelangte der Fürst endlich in einem Mittelzustand zwischen Leben und Tod nach der Ismailowskaja-Straße.
Zu seiner großen Überraschung hatte man bei der Lehrerwitwe weder am vorhergehenden noch an diesem Tag etwas von Nastasja Filippowna gehört; aber alle kamen herausgelaufen, um ihn selbst wie ein Wundertier anzustaunen. Die ganze zahlreiche Familie der Lehrerwitwe, lauter Mädchen, immer ein Jahr auseinander, im Alter von fünfzehn bis zu sieben Jahren, strömte hinter der Mutter her heraus und umringte ihn mit offenem Mund. Hinter ihnen kam auch ihre hagere, gelbe Tante mit einem schwarzen Kopftuch heraus, und endlich erschien die Großmutter der Familie, eine alte Dame mit einer Brille. Die Lehrerwitwe bat ihn dringend, einzutreten und sich zu setzen, was der Fürst auch tat. Er merkte sofort, daß ihnen vollständig bekannt war, wer er war, und daß sie genau wußten, daß gestern seine Hochzeit hatte sein sollen, und nun den brennenden Wunsch hatten, ihn nach der Hochzeit zu befragen und eine Erklärung des wunderlichen Umstands zu erhalten, daß er sich jetzt bei ihnen nach derjenigen erkundigte, die jetzt nirgends sonst als in Pawlowsk mit ihm hätte zusammen sein sollen, daß aber ihr Taktgefühl sie von diesen Fragen zurückhielt. In kurzen Zügen befriedigte er ihre Neugier hinsichtlich der Hochzeit. Nun fingen sie an, ihr Erstaunen zu äußern und »ach!« und »oh!« zu rufen, so daß er sich genötigt sah, auch fast alles übrige zu erzählen, natürlich mit Beschränkung auf die Hauptpunkte. Endlich kam das Konsilium der weisen, aufgeregten Damen zu dem Schluß, der Fürst müsse unter allen Umständen und vor allen Dingen sich den Zutritt zu Rogoschin erzwingen und sich von ihm über alles positive Auskunft geben lassen. Wenn Rogoschin nicht zu Hause sei (was zuverlässig festgestellt werden müsse) oder nichts sagen wolle, so müsse der Fürst nach der Semjonowskaja-Straße fahren, zu einer deutschen Dame, einer Bekannten von Nastasja Filippowna, die dort mit ihrer Mutter wohne; vielleicht habe Nastasja Filippowna in ihrer Aufregung und in dem Wunsch, sich verborgen zu halten, bei denen übernachtet. Der Fürst erhob sich in sehr bedrückter Stimmung; die Damen erzählten später, er sei »furchtbar blaß« geworden; tatsächlich konnte er sich kaum auf den Beinen halten. Endlich hörte er aus einem schrecklichen Durcheinanderreden heraus, daß sie sich verabredeten, ihm behilflich zu sein, und ihn nach seiner Adresse in der Stadt fragten. Eine Adresse, unter der er zu erreichen gewesen wäre, hatte er gar nicht, und so rieten sie ihm denn, in einem Gasthaus Quartier zu nehmen. Der Fürst überlegte ein Weilchen und gab ihnen dann die Adresse seines früheren Gasthauses an, desselben, wo er vor fünf Wochen den Anfall gehabt hatte. Dann begab er sich wieder zu Rogoschin. Dieses Mal wurde nicht nur bei Rogoschin nicht geöffnet, sondern auch die Tür zur Wohnung der alten Mutter blieb geschlossen. Der Fürst begab sich zum Hausknecht und fand ihn mit Mühe auf dem Hof; der Hausknecht war irgendwie beschäftigt und antwortete kaum, sah den Fürsten sogar kaum an; aber er erklärte doch mit Bestimmtheit, Parfen Semjonowitsch sei ganz früh weggegangen; er sei nach Pawlowsk gefahren und werde heute nicht mehr nach Hause kommen.
»Ich werde warten; vielleicht kommt er am Abend?«
»Vielleicht bleibt er auch eine Woche weg; wer kann das wissen?«
»Also hat er doch heute hier übernachtet?«
»Übernachtet hat er hier schon ...«
All dies war verdächtig und unglaubwürdig. Gut möglich, daß der Hausknecht in der Zwischenzeit neue Instruktionen erhalten hatte; vor kurzem war er geradezu redselig gewesen, und jetzt wandte er sich einfach vom Fürsten ab. Aber der Fürst beschloß, nach zwei Stunden noch einmal heranzukommen und, wenn es nötig sein sollte, sogar bei dem Haus Wache zu halten; jetzt aber blieb noch die Hoffnung auf die Deutsche, und er fuhr eiligst nach der Semjonowskaja-Straße.
Aber bei der Deutschen fand er überhaupt kein Verständnis für seine Wünsche. Aus einigen flüchtigen Andeutungen konnte er sogar entnehmen, daß die schöne Deutsche sich vor ungefähr vierzehn Tagen mit Nastasja Filippowna überworfen hatte, so daß sie all diese Tage her von ihr nichts gehört hatte und jetzt ausdrücklich zu verstehen gab, es interessiere sie gar nicht, wieder von ihr zu hören, »und wenn sie alle Fürsten der Welt heirate«. Der Fürst beeilte sich wegzugehen. Es kam ihm unter anderm der Gedanke, sie sei vielleicht wie damals nach Moskau gefahren und Rogoschin selbstverständlich hinter ihr her, vielleicht aber auch mit ihr zusammen. »Wenn man wenigstens irgendwelche Spuren finden könnte!« dachte er. Er erinnerte sich jedoch, daß er in dem Gasthaus Quartier nehmen müsse, und eilte nach der Litejnaja-Straße; dort wies man ihm sogleich ein Zimmer an. Der Kellner fragte ihn, ob er etwas essen wolle; er antwortete in seiner Zerstreutheit: »Ja!« und war, als er dann seine Gedanken gesammelt hatte, sehr ärgerlich auf sich selbst, weil das Essen ihn unnötigerweise eine halbe Stunde aufhielt; erst nachher fiel ihm ein, daß ihn ja nichts gehindert hätte, das bestellte Essen im Stich zu lassen. Eine sonderbare Empfindung bemächtigte sich seiner in diesem halbdunklen, heißen Korridor, eine Empfindung, die qualvoll danach strebte, sich in einen Gedanken zu verwandeln; aber er konnte absolut nicht erraten, worin dieser neue, sich aufdrängende Gedanke eigentlich bestand. Als er endlich das Gasthaus verließ, war er kaum bei Sinnen; der Kopf war ihm schwindelig; aber wohin sollte er fahren? Er eilte wieder zu Rogoschin.
Rogoschin war nicht zurückgekehrt; auf sein Klingeln wurde nicht geöffnet; er klingelte bei der alten Frau Rogoschina; es wurde geöffnet und ihm gesagt, Parfen Semjonowitsch sei nicht da und werde vielleicht drei Tage wegbleiben. Auffällig war dem Fürsten, daß die Dienerin ihn wie früher mit einer seltsamen Neugier musterte. Den Hausknecht fand er diesmal überhaupt nicht. Nachdem er das Haus verlassen hatte, ging er wie das vorige Mal auf das gegenüberliegende Trottoir, sah nach den Fenstern und wanderte in der drückenden Hitze eine halbe Stunde, vielleicht auch noch länger, auf und ab; aber dieses Mal bewegte sich nichts; die Fenster öffneten sich nicht; die weißen Rouleaus waren unbeweglich. Er sagte sich endgültig, daß es ihm gewiß auch vorhin nur so vorgekommen sei, und daß die Fenster allem Anschein nach so trübe und so lange nicht geputzt seien, daß man es schwer erkennen könne, wenn wirklich jemand durch die Scheiben sähe. Erfreut über diesen Gedanken, fuhr er wieder nach der Ismailowskaja-Straße zu der Lehrerwitwe.
Dort erwartete man ihn bereits. Die Lehrerwitwe war schon an drei, vier Stellen gewesen und sogar selbst zu Rogoschin gefahren, hatte aber nicht die geringste Spur gefunden. Der Fürst hörte schweigend zu, trat ins Zimmer, setzte sich auf das Sofa und blickte alle an, wie wenn er gar nicht verstände, wovon sie zu ihm redeten. Sonderbar: bald war er außerordentlich aufmerksam, bald auf einmal wurde er wieder in unglaublichem Maße zerstreut. Die ganze Familie СКАЧАТЬ