Название: Nächster Halt: Darjeeling-Hauptbahnhof
Автор: Christoph Kessel
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783745004892
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Von Chihuahua fuhr ich mit dem Bus den Katzensprung von 876 Kilometern durch die mexikanische Nacht nach Zacatecas in Zentralmexiko. Die Landschaft änderte sich innerhalb dieser zwölf Stunden Fahrt überhaupt nicht: Hochland in 2.000 Metern Höhe, das hauptsächlich für die Viehzucht und die Landwirtschaft genutzt wurde. Der Name Zacatecas stammt vom Indianerstamm der Zakateken, die in dieser Gegend lange vor der spanischen Besatzung Silber gefunden hatten. Ein Zakateke gab fatalerweise einem spanischen Kolonialisten angeblich ein Stückchen bearbeitetes Silber. Die Spanier gründeten daraufhin die Stadt Zacatecas und hauten mehrere Minen in die sie umgebenden Berge. Die Indianer wurden versklavt und in die Minen geschickt. Die Silbermengen, die in Zacatecas aus dem Stein gehauen wurden, bildeten rund 20 Prozent des gesamten in Neuspanien gewonnenen Silbers. Neuspanien umfasste damals die besetzten Gebiete Mittel- und Südamerikas sowie die Philippinen. Die spanischen Kolonialisten wurden sozusagen steinreich, viele Indianer hingegen kamen in den Minen um. Der Reichtum der Kolonialisten war noch in Zacatecas zu bewundern. Riesige, gut erhaltene Paläste, Kirchen aus rot-orangenem Stein gehauen und mit Fresken überhäuft, Plätze mit Springbrunnen sowie weitläufige Parks erinnern an die Blütezeit der Stadt. Für mich war Zacatecas geographisch sehr bedeutsam. Die Stadt liegt direkt am nördlichen Wendekreis. Am 21. Juni jeden Jahres steht dort die Sonne genau um zwölf Uhr mittags senkrecht über der Stadt. Mit dem Überschreiten des nördlichen Wendekreises reiste ich geographisch betrachtet in die Tropen ein. Diese erstrecken sich vom nördlichen bis zum südlichen Wendekreis.
Zacatecas bot kulinarische Leckerbissen wie Obstsalat aus dem Plastikbecher. Melonen-, Papaya-, Ananas-, Gurken- und Zuckerrohr-Stücke wurden in den Becher geschnippelt und auf Wunsch mit frisch gepresster Limette und Chili garniert. Gegessen wurde dieser Cocktail mit Hilfe eines Zahnstochers. Zacatecas lud auch sehr zum Entspannen vom Leben auf der Straße ein. Denn natürlich gingen mir der Lärm und der Dreck, die permanent auf mir lasteten, irgendwann auf den Keks. In Zacatecas’ Parks konnte ich mich daher mit meinem Fruchtsalat auf einer Parkbank niederlassen und klassischer Musik lauschen, die aus aufgestellten Lautsprechern durch den Park tönte. Außerdem konnte ich auf die Hügel der Stadt klettern und den herrlichen Sonnenuntergang genießen, bevor es aber auch dort sehr kalt wurde. Schließlich liegt Zacatecas auf mehr als 2.300 Metern Höhe.
Von Zacatecas aus begab ich mich nach Guadalajara, der zweitgrößten Stadt Mexikos, um wieder einmal auf Schatzsuche zu gehen. Nein, keine postlagernden Briefe oder Touristenkarten, sondern Medikamente galt es dieses Mal zu finden. Schließlich reiste ich die nächste Zeit nun in den Tropen und da wohnen auch manchmal ziemlich unliebsame Zeitgenossen, wie die Anopheles-Mücke, die die so genannte »Malaria« überträgt. Mein Tropendoktor in Deutschland meinte, ich solle mir die Malaria-Medikamente in Mexiko besorgen, da sie wesentlich günstiger als in Deutschland seien. Das mochte vielleicht stimmen, aber leider war es gar nicht einfach, diese zu finden. Erstens hießen die Medikamente anders, zweitens fanden sich in den Apotheken meist lediglich so wirksame Medikamente wie Corona oder Snickers, aber leider keine Malariaphrophylaxe. Schließlich absolvierte ich in mehreren Apotheken ein Kurzstudium der Pharmazie und lernte verschiedene Mittelchen kennen. Anschließend ging es ab ins Internetcafé um herauszukriegen, welchem Mittelchen das Zeug in Deutschland entsprach. Nach längerer Suche bekam ich meine Grundprophylaxe gegen Malaria und konnte nun zunächst unbeschwert weiterreisen.
Da ich in Guadalajara nur Apotheken besuchte, kann ich über die Stadt nicht sonderlich viel berichten, außer dass es die ersten drei Tropfen Regen seit dem 4. Oktober 2002 für mich gab. Damals war ich im Platzregen mit dem Greyhound von Boston nach White River Junction gefahren. Nachdem ich meine Medikamentensucht befriedigt hatte, stellte ich mich meinem nächsten Suchtproblem 60 Kilometer von Guadalajara entfernt. Ich besuchte die sicherlich vom Namen her bekannte Stadt Tequila. Rund um die Stadt wuchsen Agaven, Agaven und nochmals Agaven. Diese sind die Basis für das mexikanische Getränk schlechthin mit dem gleichen Namen wie die Stadt, in der dieses Gesöff produziert wird. Der Sage nach stießen die Indianer lange vor der spanischen Besatzung durch einen Zufall auf diesen Trunk. Ein Blitz schlug in eine Agave ein und nach dem Regenguss probierten die Indianer die Flüssigkeit, die aus dem Herz der Agave floss. Dies schmeckte ihnen so gut, dass sie von nun an die Agaven-Herzen in der Sonne brannten. Es dauert etwa zwölf Jahre, bis ein Agaven-Herz vom Typ »Agave Tequilana Weber« das Erntegewicht von 50 Kilogramm erreicht. Während die Indianer aus der Pflanze Kleidung, Essen, Papier, Tequila und Folterinstrumente herstellten, wird die Agave heute nur noch als Grundlage für das alkoholische Getränk verwendet. Heute werden die Agaven-Herzen drei Tage lang gekocht, danach geschreddert und gepresst. Der Abfall wird wie in den schottischen Whiskybrennereien auch an die Tiere der Umgebung verfüttert. Der Saft hingegen wird mit Hefe versetzt und es beginnt der Prozess der Fermentation. Heute wird der leicht alkoholische Saft nicht mehr in der Sonne gebrannt sondern in Dampfkesseln. Natürlich existieren verschiedene Sorten von Tequila. Laut Gesetz muss Tequila mindestens 51 Prozent Agaven-Substanz enthalten. Der Rest kann aus Zuckerrohr bestehen. Die guten Tequilas enthalten 100 Prozent Agaven-Substanz. Die Farbe der so genannten »Goldenen Tequilas« kommt bei »Añejos« von den Eichenfässern, in denen der Tequila ein Jahr verbringt. Bei den billigen »Joven«{73} wird einfach Karamel-Substanz dazugekippt. Die Mexikaner machen keinen Unterschied in der Trinkweise zwischen goldenem und silbernem Tequila:
1. Mit der Zunge den Handrücken ablecken
2. Den feuchten Handrücken in Salz eintauchen
3. Den nun hoffentlich salzigen Handrücken ablecken
4. Das Tequila-Glas in einem Zug leeren, nachdem man »¡arriba abaja!« ausgerufen hat und im Rachenraum bunkern
5. Die Limette komplett abgrasen
6. Den nun entstanden Cocktail hinunterschlucken
Nachdem ich die Brennerei Sauza besichtigt hatte, nahm ich am Kurs »Wie genieße ich einen Tequila gemäß mexikanischer ISO-9002-Norm?« teil. Leider war ich überhaupt nicht lernfähig und brauchte fünf Shots bis meine mexikanischen Lehrer zufrieden gestellt waren. Ich hatte nach absolvierter »Prüfung« einige Koordinationsprobleme und schwankte mehr schlecht als recht zur lokalen Busstation zurück. Ich hatte den Eindruck, nachdem ich wieder nüchtern war, dass innerhalb von Mexiko eine unsichtbare Linie entlang des nördlichen Wendekreises existiert. Nördlich davon erinnert Mexiko noch teilweise an den großen Nachbarn im Norden, vor allem was das halbwegs geregelte Leben angeht. Doch südlich dieser Linie begann nun wirklich das etwas chaotische Zusammen- und Durcheinander-Leben. Beispielsweise grasten nun Kühe auf dem breiten Mittelstreifen der »Autopista«. Auf der gleichen Autopista hielt der Bus auch einfach an, damit alle am Straßenrand einkaufen und gleichzeitig ein- und aussteigen konnten. Glücklicherweise haben die Autopistas oft acht Spuren, sodass vier Spuren für den Markt und haltende Autos genutzt wurden, ohne dass es zu Auffahrunfällen kam. Die Verkäufer, die die Busse betraten, um Waren darzubieten, drängelten sich oft im Gang und schrien sich gegenseitig nieder. Mittlerweile wurde im Transportbereich auch der obligatorische Esel permanent eingesetzt, hauptsächlich um die Maiskolben für die Tortillas{74} und Tacos beziehungsweise die Agaven-Herzen vom Feld nach Hause zu bringen. An den Straßenkreuzungen existierte nun auch ein rotierender Markt. Je nachdem wo gerade die Ampel auf Rot gesprungen war, wurden Zeitungen, Buritos und Haushaltwaren in den Autoschlangen angeboten. Natürlich konnte auch wahlweise die Windschutzscheibe, falls vorhanden, gereinigt werden.
Die 634 Kilometer lange Strecke von Guadalajara nach Taxco legte ich mit zweimal Umsteigen in elf Stunden zurück, ohne mich durch den Moloch Mexico D. F. quälen zu СКАЧАТЬ