Название: Nächster Halt: Darjeeling-Hauptbahnhof
Автор: Christoph Kessel
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783745004892
isbn:
Von Topolobampo reiste ich mit einem so genannten Zweite-Klasse-Bus weiter ins Landesinnere nach Los Mochis. Die mexikanischen Zweite-Klasse-Busse waren etwas anders ausgestattet als die Langstreckenbusse, denn die Klimatisierung stammte vom Fahrtwind der durch die mehr oder weniger noch existierenden Fenster herein blies. Die Busse hatten vor Jahrzehnten amerikanischen Schulkindern gedient und waren nunmehr für kleingewachsene Mexikaner da. Ich lernte schnell meine Beine geschickt zu »verknoten«, sodass auch ich auf den Sitzen Platz nehmen konnte. Am nächsten Tag musste ich dem Pazifik bis auf weiteres »¡Adios!« sagen, und es ging nun seit Schottland zum ersten Mal wieder mit einem Zug voran. Die Eisenbahn »Ferrocarril Chihuahua Pacifico« verbindet die heiße Landwirtschaftsmetropole Chihuahua im Norden des Hochlands von Mexiko mit dem Pazifik. Auf den über 600 Kilometern Gleisstrecke müssen mehr als 2.400 Höhenmeter überwunden werden. Dazu wurden 39 Brücken und 86 Tunnel gebaut. Ein Großteil der Strecke führt durch den so genannten »Barranca del Cobre«, zu Deutsch Kupfer-Canyon. Dieser besteht aus mehr als 20 Schluchten und ist insgesamt viermal größer als der Grand Canyon in den USA.
Auf Meereshöhe rollte ich zunächst durch Ackerland und durch die Palmen-Wälder des Küstenstreifens. Die Höchstgeschwindigkeit von etwa 40 km/h ließ das Gefühl aufkommen, als ob es überhaupt nicht voranginge. Aber wenigstens konnte bei dieser Geschwindigkeit auch nicht viel Fatales passieren. Das rhythmische Geschaukel nach links und rechts sowie das monotone Gequietsche der Waggons ließ uns Passagiere nochmals einschlafen, denn die Abfahrt um sieben Uhr morgens war definitiv unchristlich. Aber mittlerweile befand ich mich im Bereich der Tropen, wo das ganze Jahr um sechs Uhr morgens die Sonne aufgeht und um sechs Uhr abends wieder untergeht. Dementsprechend ist das ganze Leben auf die Sonne ausgerichtet und viele Busse, Fähren oder Züge fahren kurz nach Sonnenaufgang los, um möglichst vor Sonnenuntergang das Tagesziel zu erreichen. Also musste ich nun oftmals um fünf Uhr morgens aufstehen. Nach dem Sonnenuntergang passiert in vielen Dörfern und Städtchen auch nicht mehr viel, sodass ich meist um zehn Uhr abends ins Bett sprang. Daher fiel mir das frühe Aufstehen auch zunehmend leichter.
Nach zwei Stunden Zugfahrt oder ca. 80 Kilometern gab es schließlich die ersten Essenverkäufer, die die Waggons zum Frühstück stürmten. Diesmal waren »Buritos«{71} der absolute Renner. Von Taco Bell aus den USA mitgebrachte Soßen machten den ziemlich fahlen Burito richtig würzig. So ergab sich doch noch ein sehr leckeres Frühstück. Nach etwa fünf Stunden Fahrt rollte der Zug langsam in den Kupfer-Canyon hinein. Auf der Talsohle wuchsen noch Orangenbäume, Palmen und andere Obstbäume. Bald darauf wurde die Bahnstrecke steiler und wir rollten durch die vielen Tunnels und Brücken langsam bergauf. Die Landschaft wurde durch die steilen Felswände immer reizvoller und so verbrachte ich die meiste Zeit zwischen den Waggons, da ich dort ohne Fenster frei fotografieren konnte. Bei jedem Tunnel musste ich die Luft anhalten, da die Diesellok diese ziemlich schnell verpestete. Zum Glück stand vor jedem Tunnel die Länge angeschrieben – bei Längen von mehr als 300 Metern war Luftanhalten nicht mehr möglich. Da hieß es rechtzeitig in den Waggon flüchten, wollte ich mir meine Lungen nicht total zurußen. Die Strecke gewann immer mehr an Höhe. Im Berg zog der Zug durch so genannte Kehren-Tunnels wie in Serpentinen bergauf. Da die Bahnstrecke meist eingleisig verlief, mussten wir natürlich irgendwann auf den Gegenzug an einer Stelle treffen, wo hoffentlich die Strecke kurz zweigleisig angelegt war. Leider musste immer ein Zug auf den anderen warten, da die Fahrpläne nicht so ganz aufeinander abgestimmt waren. So hieß es für meinen Zug knapp eine Stunde auf freier Strecke warten.
Nach zehn Stunden Fahrt und Warten hatten wir die höchste Stelle mit 2.400 Metern Höhe erreicht. Die Vegetation erinnerte mich eher an den Schwarzwald als an Mexiko. Nadelwald soweit das Auge reichte, lediglich durch das Panorama unterbrochen, das sich unweit der Gleise uns bot. Der ganze Kupfer-Canyon lag mit seiner Talsohle ca. 1.900 Höhenmeter unter unseren Füßen. Im Licht der untergehenden Sonne und durch riesige Schatten sah der Canyon wirklich gewaltig aus. Vom höchsten Punkt fuhr ich schließlich nicht mehr mit dem Zug weiter, war doch genau einen Tag vorher ein Zug direkt hinter der Anhöhe entgleist. Glücklicherweise war anscheinend aber niemandem dabei etwas zugestoßen. Das Gepäck wurde auf einen Lkw umgeladen, die Passagiere in Klapperbusse verfrachtet und weiter ging es nach Creel. Die gesamte Zugfahrt unternahm ich mit einem internationalen Team aus Holland, der Schweiz und Spanien. Als Alleinreisender bleibt man selten alleine. Gerade in Mexiko reisen viele Leute mit dem Rucksack quer durchs Land, sodass ich gelegentlich mit Anderen unterwegs war. Oft hat man die gleichen Ziele und so reist man manchmal länger, manchmal kürzer miteinander. Wenn man keine Lust mehr aufs Zusammenreisen hat, kann man immer abspringen und eine andere Route wählen. Dies macht das Alleinreisen wirklich reizvoll.
Zusammen mit den anderen Reisenden fuhr ich am nächsten Tag durch das Land der Tarahumara-Indianer, die im Hochland und im Kupfer-Canyon zum Teil noch in Höhlen lebten. Aber so unberührt von der Zivilisation gingen diese Menschen nun auch nicht mehr ihrem Alltag nach. Allerdings trugen viele Tarahumara noch ihre bunten Trachten, sicherlich nicht nur zu touristischen Zwecken. Die Tarahumara nennen sich selbst Rarámui.{72} Das schnelle Rennen war traditionell die Jagdmethode der Tarahumara. Sie rannten dem Wild so lange hinterher, bis es außer Puste war. Danach trieben sie die Tiere über den Felsrand, hinter dem hölzerne, spitze Stöcke aufgestellt waren. Heute veranstalten die Tarahumara Rennen, bei denen sie 160 Kilometer am Stück durch den Canyon rennen und einen wollenen Ball vor sich her schießen. Nicht nur die Tarahumara-Häuser und -Höhlen waren eine Reise wert, sondern auch die Umgebung, in denen die Indianer oberhalb des Canyons lebten. Ungewöhnliche Felsformationen umgeben von Nadelwald sahen durch das Spiel mit Licht und Schatten sehr bizarr aus. Dazu gab es heiße Quellen und einen See, der wiederum eher in ein deutsches Mittelgebirge passen würde als nach Nordmexiko.
Am nächsten Tag reiste ich weiter durch das Hochland von Mexiko nach Cuhautemoc. Dort wurde ich von »weißen« Mexikanern auf Deutsch in ihrem Land begrüßt. Diese deutschsprachigen Mexikaner sind Mennoniten, die lediglich Gott als Autorität anerkennen. Daher bekamen die Mennoniten im 19. Jh. in Deutschland große Schwierigkeiten beim Ausüben ihrer Religion. Über Russland, Kanada und die USA waren die Mennoniten nach Mexiko geflüchtet, das in den 20er Jahren des 20. Jh. sehr liberal geprägt war und die Mennoniten bei der Ausübung ihrer Religion in Ruhe ließ. Die Mennoniten sprechen aufgrund ihrer Isolation das Deutsch, das bei uns vor ca. 100 Jahren gesprochen wurde. Es war für mich sehr interessant, ein paar Worte mit einem alten Mennoniten zu wechseln, der natürlich auch fließend spanisch sprach. Die Mennoniten leben hauptsächlich von der Landwirtschaft. Die Hochlandebene in Nordmexiko eignet sich hauptsächlich für Getreideanbau und Viehzucht. Dementsprechend sah es dort etwa so aus, wie in den Great Plains in den USA, die ich einen Monat zuvor bereist hatte: Felder und Weiden soweit das Auge reichte. Allerdings trugen in Nordmexiko wesentlich mehr Männer Cowboyhüte als die Boys in den USA, die mittlerweile doch mehr auf Baseball-Kappen stehen.
Von Cuhautemoc fuhr ich nach Chihuahua, das in der lokalen Nahua-Sprache ganz treffend »trockene und sandige Gegend« bedeutet. Die Stadt hatte leider nicht viel zu bieten, außer der Tatsache, dass sie eine große Bedeutung für die mexikanische Geschichte hat. Der berühmte Doroteo Arango, besser bekannt unter dem Namen Francisco »Pancho« Villa, war in der Stadt zu Hause. Eigentlich war Pancho ein Räuber, wie es Anfang des 20. Jh. sicherlich tausende im »Wilden Norden« Mexikos gab. Seit der Unabhängigkeit von Spanien 1821 war Mexiko rein theoretisch eine Demokratie, die aber Anfang des 20. Jh. eher einer Diktatur glich. Pancho hatte sich gerade mit Anfang 30 zur Ruhe gesetzt, als er von Bekannten für die Revolution gewonnen wurde. Sie hatten vor, den Großgrundbesitzern Land für die arme Bevölkerung abzunehmen. Pancho Villa war ein talentierter Guerillakämpfer und nach einem Jahr Bürgerkrieg nahm der Diktator 1911 seinen Hut. Der nun folgende Präsident Madero war nicht in der Lage, das Land zur Ruhe zu bringen und wurde 1913, wie so viele Präsidenten Mexikos vor ihm, umgebracht. Pancho floh zunächst in die USA, um schließlich wieder einen Guerillakrieg mit der gleichen Forderung anzuzetteln: Land für Arme. Die mexikanische Armee wurde erneut СКАЧАТЬ