Название: Tarabas
Автор: Йозеф Рот
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783750207356
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Tarabas trat näher – und gleich darauf einen Schritt zurück. In diesem Augenblick begann die Glocke der kleinen griechischen Kirche zu läuten. Die ersten Bäuerinnen zeigten sich schon auf dem Weg, der zur Kirche führte. Sonntag war es. Tarabas bekreuzigte sich – immer den Blick auf den fremden Soldaten gerichtet. Und es war, als ob er aus Angst vor ihm das Kreuz geschlagen hätte. In diesem Augenblick nämlich sah er es deutlich: der fremde Soldat war ein rothaariger Jude. Ein rothaariger Jude. Rothaarig, Jude – und es war Sonntag!
Zum erstenmal, seitdem er zur Armee gekommen war, erwachte in Nikolaus Tarabas der alte Aberglaube wieder. Sofort wußte er auch, daß von diesem Augenblick an sein Schicksal sich verändern sollte. »Wie kommst du daher?«, fragte Tarabas. Der Soldat zog aus seiner Tasche ein Papier. Man ersah daraus, daß er von dem aufgeriebenen, zum Teil desertierten, zum Teil zu den Bolschewiken übergelaufenen Infanterieregiment Nummer zweiundfünfzig gekommen war. »Es ist gut!«, sagte der Hauptmann Tarabas. »Bist du Jude?« »Ja!«, sagte der Soldat, »meine Eltern waren Juden! Ich aber kenne keinen Gott!«
Nikolaus Tarabas trat noch einen Schritt zurück. Er klopfte mit dem Reitstöckchen gegen die Stiefel. Der Rothaarige hatte grüngraue Augen und flammende, kurze Büschel darüber, statt der Brauen. »Also, ein Gottloser bist du!«, sagte der Hauptmann. »So, so!«
Er ging weiter. Der Soldat legte sich wieder an den Wegrand. Einmal noch wandte sich Tarabas um. Da sah er das rote Haar des Fremden zwischen dem spärlichen Grün des Abhangs leuchten; ein kleines Feuerchen an der grauen, staubigen Straße.
7
Von diesem Tage an begann sich die Welt des Hauptmanns Tarabas zu verändern. Seine Leute gehorchten nicht mehr wie zuvor, schienen ihn weniger zu lieben und weniger zu fürchten. Und züchtigte er einen von ihnen, so verspürte er einen unerklärlichen, unsichtbaren, unhörbaren Groll in den Reihen. Die Männer sahen ihm nicht mehr gerade in die Augen. Eines Tages verschwanden zwei Unteroffiziere, die besten Leute des Regiments, die mit Tarabas seit dem ersten Tage gekämpft hatten. Ihnen folgten eine Woche später ein paar Infanteristen. Aber der rothaarige Gottlose entfernte sich nicht, der einzige, dessen Desertion der Hauptmann Tarabas ersehnte. Es war im übrigen ein Soldat ohne Makel. Pünktlich und gehorsam war er. Aber selten erteilte ihm der Hauptmann Tarabas einen Befehl. Die anderen fühlten es. Ja, sie wußten es. Manchmal beobachtete Tarabas, daß der Rothaarige zu den Soldaten sprach. Sie hörten ihm zu, umringten ihn, lauschten. Tarabas rief einen Beliebigen zu sich. »Was erzählt er denn, der Rothaarige?« »Geschichten!«, sagte der Soldat. »Was für Geschichten?« »So, eben lustige Weibergeschichten!« Und Tarabas wußte, daß der Mann log. Aber er schämte sich, daß man ihn belogen hatte, und er fragte nicht weiter.
Eines Morgens fand der Hauptmann bei seinem Burschen eine der bolschewistischen Broschüren, die er noch nie gesehen hatte. Er zündete sie mit einem Streichholz an, die Blätter brannten nur bis zur Hälfte ab, erloschen dann, und Tarabas warf sie wieder hin. Er beobachtete von nun an den Burschen aufmerksamer. »Stepan«, sagte er, »hast du mir nichts zu erzählen? – Wo ist deine Mundharmonika, Stepan, möchtest mir was vorspielen?« »Hab' sie verloren, Euer Hochwohlgeboren!«, sagte Stepan, demütig und traurig.
Auch Stepan verschwand plötzlich, an einem Abend, kein Mensch wußte Auskunft zu geben.
Der Hauptmann Tarabas ließ alle Welt antreten und verlas die Namen seiner Kompanie. Mehr als die Hälfte der Leute war desertiert. Den Rest ließ er eine Stunde exerzieren. Der Rothaarige exerzierte tapfer, fleißig, ohne Fehl, ein tadelloser Soldat.
Ein paar Tage später, in der Stunde, in der Tarabas gerade mit dem Obersten und den übrigen Offizieren beriet, wie man die Desertionen verhindern könnte, erschien der Rothaarige, zwei Handgranaten im Gürtel, eine Pistole in der Hand, begleitet von zwei Unteroffizieren. »Bürger«, sagte der rothaarige Gottlose, »die Revolution hat gesiegt. Geben Sie die Waffen ab, Sie haben freies Geleit. Und Sie, Bürger Tarabas, und was sonst bei uns Ihre Landsleute sind, können in Ihre Heimat zurück. Einen eigenen Staat haben jetzt eure Leute.«
Er war ganz still. Man hörte nur die große Taschenuhr des Obersten ticken, die auf dem Tisch lag, mit aufgeklapptem Deckel. Sie steppte die Zeit wie eine Nähmaschine.
8
Nachdem der Rothaarige mit seinen Leuten das Zimmer verlassen hatte, stand der Oberst auf, wartete einen Augenblick, als überlegte er irgendeinen Plan, als hätte er in dieser Stunde, da die ganze Armee, das Regiment, er selbst endgültig verloren waren, noch die Gnade eines rettenden Einfalls erfahren. Tarabas sah von seinem Sitz zum Obersten empor, mit einem fragenden Blick. Der Oberst wandte sich um. Er stieß den Sessel weg. Die solide, ledergepolsterte Lehne schlug dumpf auf den hölzernen Boden. Der Oberst ging ans Fenster. Sein breiter Rücken bedeckte fast den ganzen Rahmen. Tarabas rührte sich nicht. Plötzlich schluchzte der Oberst auf. Es klang wie ein kurzer, jäher, schnell erstickter Ruf, fremd, als käme er nicht aus der Kehle des Obersten, sondern unmittelbar aus dem Herzen; ja, als hätte das Herz eine eigene, eine ganz besondere Kehle, durch die es sein ganz besonderes Weh in die Welt rief. Die mächtigen Schultern hoben und senkten sich, eine Sekunde lang. Dann machte der alte Mann wieder kehrt und trat zum Schreibtisch. Er blickte eine Weile auf die große, aufgeklappte, unerbittlich-regelmäßig tickende Uhr, als sähe er zum erstenmal das hurtige Rucken ihres seinen Sekundenzeigers. Tarabas schaute ebenfalls auf die Uhr. Nichts regte sich in ihm, leer war sein Kopf, kalt war sein Herz. Er glaubte, es klopfen zu hören, es tickte im gleichen Rhythmus wie die Uhr auf dem Tisch. Nichts hörte man sonst. Es war Tarabas, als wäre schon eine unendlich lange Zeit seit dem Abgang des Rothaarigen vergangen.
Schließlich begann der Oberst: »Tarabas«, sagte er, »nehmen Sie diese Uhr zum Andenken!«
Der Oberst zog sein Taschenmesser heraus und öffnete den rückwärtigen Deckel. Er las die eingravierte russische Inschrift: »Meinem Sohn Ossip Iwanowitsch Kudra« und zeigte sie Tarabas.
»Ich habe die Uhr bekommen, als ich die Kadettenschule verließ. Mein Vater war sehr stolz. Ich auch. Ich komme aus ganz kleiner Familie. Der Vater meines Vaters noch war Leibeigener der Zarizyns gewesen. Ich war mein Leben lang kein besonderer Soldat, Hauptmann Tarabas! Ich glaube, ich war faul und nachlässig. Es gab viele solcher Offiziere bei uns. Wenn Sie mir die Ehre erweisen, diese Uhr anzunehmen, Bruder Tarabas?«
»Ich nehme sie«, sagte Tarabas und erhob sich. Der Oberst klappte beide Deckel zu und reichte die Uhr Tarabas über den Tisch. Dann stand er noch eine Weile da, den grauen Kopf gesenkt. Dann sagte er: »Pardon, ich will nach meinen Sachen sehn!« – ging langsam um den Tisch, an Tarabas vorbei, zur Tür hinaus.
Im nächsten Augenblick knallte ein Schuß. Er hat sich erschossen! dachte Tarabas im Nu. Er öffnete die Tür. Der Oberst lag ausgestreckt neben der Schwelle. Er mußte sich zuerst vorsorglich hingelegt und dann erst erschossen haben. Sein Rock war geöffnet. Das Blut sickerte durch das Hemd. Die Hände des Toten waren noch warm. Noch lag der Zeigefinger der Rechten am Hahn der Pistole.
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