Название: Die Kinder der Bosheit
Автор: Ralph Ardnassak
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783847606864
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IV
Theo Ferstners Vorfahren zählten zu den großen Schifferdynastien, jenen Schifferfamilien, die mit ihren Fahrzeugen auf dem Strom und auf der nahen Elbe noch bis in die 1930er Jahre hinein ihr Auskommen fanden.
Eine große Tageszeitung aus dem fast zweihundert Kilometer entfernten und weiter im Norden gelegenen Magdeburg berichtete noch im Jahre 1928 mit dem Unterton einiger Verwunderung, dass mindestens jeder dritte und vierte Lastkahn, der auf dem Strom und auf der Elbe beobachtet werden konnte, die Heimatstation „Klein Piesicke“ aufwies.
Die Schifffahrt mit den Lastkähnen hatte auf dem Strom etwa um die Mitte des 18. Jahrhunderts ihren eher zögerlichen, später allerdings fulminanten Aufschwung genommen.
Die männlichen Mitglieder der Familie Ferstner fanden sich in dieser Zeit als einfache Zugknechte, wie sie, Pferden gleich, die schweren Lastkähne entlang der Ufer zogen.
Wie die Pferde ihre Ackerwagen, so zogen Johann Georg Ferstner, Johann Heinrich Christian Ferstner und Johann Caspar Ferstner in mühseligen Schritten bei Wind und Wetter die Lastkähne flussaufwärts.
In den alten Kirchenbüchern von Klein Piesicke finden sich schließlich, verzeichnet in der alten deutschen Handschrift des Pfarrers, die Anfänge der Schifffahrt von Klein Piesicke, an denen auch die Familie Ferstner regen Anteil hatte. Sie datieren auf die Jahre zwischen 1740 und 1750.
Seinerzeit galten die männlichen Mitglieder der Familie Ferstner offiziell noch als Schiffsknechte. Doch kaum ein Jahrhundert später vermeldet das Taufregister von Klein Piesicke bereits mit Stolz das Wort Schiffseigentümer, welches von nun an hinter dem Familiennamen Ferstner prangte.
In Lettau, Fangschleuse und schließlich auch in Klein Piesicke existierten zu dieser Zeit jeweils zehn bis zwanzig Schiffsknechte, die meist nur Zugknechte genannt wurden.
Zu sechs bis acht Mann, zogen sie auf den sogenannten Leinpfaden entlang der großen Flüsse und Ströme um Süden und Südosten der Reichshauptstadt für Akkordlohn an einer jeweils am unteren Ende des Schiffsmastes befestigten Leine die Schiffe bei jeder Witterung flussaufwärts, wobei sie die Besatzung vom Schiff aus nach Kräften unterstützte, indem sie das Schiff mit der Hilfe des Ruders oder der Staken in der Fahrrinne hielt.
Nur bei günstigem Wind konnten Segel gesetzt und gesegelt werden.
Erst viel später, infolge der Verbesserung der schmalen Leinpfade entlang der Ufer, ersetzte man die Schiffsknechte, zunächst durch Ochsen, später durch Pferde.
Wie auch den Schiffsknechten, so wies man den ochsen und den Pferden jeweils eine Strecke von 30 bis 45 Kilometer zu.
Fest in den Gurt eingespannt, welcher mit der Zugleine des Schiffes verbunden war, zogen die Ferstners mit anderen Schiffsknechten die Lastkähne unermüdlich und bei jedem Wetter gegen den Strom.
Ob überhaupt und in welchen Zeitabständen dabei pausiert werden durfte, oblag allein dem Zeitplan des Führers der Kolonne der Zugknechte, der furchtsam von den einfachen Zugknechten König oder Haupter genannt wurde und der diesen Zeitplan zuerst mit dem Schiffer abstimmen musste.
Die Höhe des Lohnes, welchen die Ferstners mit den anderen Zugknechten erhielten, war abhängig von der strikten Einhaltung dieses Zeitplanes.
Verpflegen mussten sich die Ferstners selbst. Üblich waren dazu ein großer Brotkanten, welcher unter den Männern aufgeteilt wurde und ein Stück Speck.
Am Ziel ihrer täglichen Wegstrecke angekommen, betteten die Ferstners und die anderen Zugknechte ihre müden und zerschundenen Glieder auf die einfachen, verwanzten und verlausten Strohlager primitiver und möglichst billiger Herbergen. Meist waren sie zu erschöpft, um die Läuse oder die Wanzen zu fangen, sondern gestanden diesen als Kreaturen der Schöpfung ihr Recht auf Leben und Nahrung zu.
Anderntags wurde schließlich der Weg nach Hause angetreten, der ohne zusätzliche Plackerei schnell vonstatten ging.
Frau und Kinder erwarteten daheim die Ferstners mit der ersten warmen Mahlzeit, die meist aus Pellkartoffeln mit einer beliebigen Soße, öfter jedoch aus einem einfachen Bohnen- oder auch Graupeneintopf bestand.
Mit Eimern holten Frau und Kinder das Wasser zum Waschen von der nächsten Pumpe. Luxus war für die Ferstners ein einfaches Stück Seife. Man wusch sich in einer irdenen Schüssel, denn schon am nächsten Tag ging die Plackerei weiter, da man sich keinen eigenen Tag an Verdienstausfall erlauben konnte.
Kein Wunder also, dass Theo Ferstners Vorfahren über viele Jahre davon träumten, das Dasein als geplagte Schiffsknechte hinter sich lassen zu können, um endlich zur Mannschaft eines der Lastkähne gehören oder sogar selbst Schiffseigner werden zu können.
Der Schiffsknecht oder Zugknecht stand schließlich auf der untersten sozialen Stufe im Gefüge der Schifffahrt von Klein Piesicke.
Aber über ihm stand das Besatzungsmitglied eines der Lastkähne und am oberen Ende der sozialen Leiter thronte schließlich der Schiffseigner.
Immer wieder hatten die Ferstners von zugknechten gehört, die mit harter Arbeit, dem unerbittlichen Zusammenhalten des kargen Lohnes, mit Entsagung, Hunger und vor allem mit viel Glück, den undenkbar erscheinenden Aufstieg vollbracht hatten.
Vom gewöhnlichen Schiffsknecht bis zum Schiffseigner, der dann selbst den Zugknechten seine Befehle erteilte und die Zeit- und Pausenpläne festlegte. Das war selten, aber nicht undenkbar und der Familie Ferstner gelang es.
Überliefert ist jedoch nicht, ob die Ferstners, nachdem sie endlich zu Schiffseignern geworden waren, ihre Schiffsknechte nun besser entlohnten. Eher wohl nicht, denn sprichwörtlich war bereits damals in Klein Piesicke der Geiz der Familie Ferstner, die selbst noch als Schiffseigner vorgab, sparen und jeden verfügbaren Pfennig zusammen kratzen zu müssen, um das zum Kauf des Schiffes geliehene Geld abzahlen zu können.
Kam es zur Havarie des Schiffes oder zum Totalverlust der Ladung, was nicht selten geschah, so bedeutete dies, dass die Familie Ferstner wieder von vorn beginnen musste, weil alles Hab und Gut damit vollständig verloren war. Davon blieben die Ferstners jedoch verschont. Stattdessen gelang es ihnen, außer dem Schiff auch noch ein ansehnliches Haus in Klein Piesicke zu erwerben, was sie endlich zu richtigen Bürgern des Ortes machte, vor denen alle Schiffsknechte nun als Niedrigstehende ihren Hut in der Öffentlichkeit ziehen mussten.
Wann in Klein Piesicke das erste Lastschiff gebaut wurde und vom Stapel lief, ist unbekannt.
Alle Aufzeichnungen darüber sind verschollen und die Erinnerung an jenen Zeitpunkt oder mündliche Überlieferungen davon, sind im Verlaufe von mehr als fünf Generation schließlich im Nebel der Zeit verloren gegangen.
Doch berichtet die Chronik im Jahre 1833 über Klein Piesicke, es sei Sitz des Herzoglichen Justizamtes und ein nahrhafter Ort, dessen fleißige und ziemlich wohlhabende Einwohner sich von dem hier nur leidlich erträglichen Ackerbau, aber vor allem von Viehzucht, der Schifffahrt und dem Bau von Flussschiffen, von Fischerei, Getreidehandel und dem gewöhnlichen städtischen Handwerk ernährten. Handarbeit sei hingegen selten.
Nur 30 Jahre später wird von Klein Piesicke berichtet, dass die Einwohner leidlichen Ackerbau betreiben, ferner vorzügliche Viehzucht, Schifffahrt, Schiffbau, Brennerei, Handel, besonders jedoch den starken Getreidehandel. Zwei Zuckerfabriken gab es in Klein Piesicke, eine Ziegelei, zwei СКАЧАТЬ