Weil Inga aus dem Kirschbaum fiel. Iris Weitkamp
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Название: Weil Inga aus dem Kirschbaum fiel

Автор: Iris Weitkamp

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783738055764

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СКАЧАТЬ sechzehn Uhr dreißig fand eine Narkoseschwester die Patientin schreiend und wild um sich schlagend in ihrem Bett im Aufwachraum vor. Zunächst ging man von einer besonders starken Nachwirkung der Narkosemittel aus. Später, als sie wieder richtig zu sich kam, berichtete sie ihrer Mutter unter Tränen von einem schlanken, dunkelhaarigen Mann im weißen Kittel, der sie zwischen den Beinen berührte. Sein Namensschild konnte sie nur teilweise erkennen. Etwas wie Olmeier, Oliver ... Die aufgebrachte Mutter schaltete sowohl die Klinikleitung als auch die Polizei ein. Der Besucherstuhl, auf dem Rob saß, war noch warm vom Hintern des ermittelnden Polizeibeamten gewesen.

      Immer noch keuchend setzte Rob sich wieder in Trab. Längst hatte er die Stadtgrenze hinter sich gelassen. Er bog in einen geschotterten Feldweg ein, an dessen Rand sich knorrige Obstbäume als schwarze Schatten abzeichneten.

      Dann das Gespräch mit ebendiesem Beamten, eine Zeugenbefragung, keine Vernehmung als Beschuldigter, noch nicht, soviel hatte Robson noch vom letzten Mal gewusst. Und in den Augen des Kommissars stand zu lesen, dass ihm das bereits bekannt war. Mit Robs Einverständnis, nicht mit einem Durchsuchungsbeschluss, wurde der Inhalt seines Schreibtischcontainers und seines Spindes begutachtet. Bitte sehr, warum nicht? Es gab nichts zu verbergen. Aber schon einmal hatte er angesichts harter Anschuldigungen ein blütenreines Gewissen gehabt. Genützt hatte es ihm nicht das Geringste.

      Im letzten Moment wich Robson einem länglichen Hindernis aus, einem Ast oder einer Flasche. Er strauchelte, fing sich wieder. Mal joggend, mal taumelnd trieb Rob durch die Nacht. Erst als der Morgen graute, hinkte er in seine Wohnung und in Richtung Bett. Im Fallen, noch bevor sein Kopf das Kissen berührte, verlor er das Bewusstsein.

      Es war ein wunderschöner Frühsommertag. Inga saß am Steuer von Ralfs gelbem Bulli und sang aus voller Kehle.

      Neben ihr schüttelte Sabije ihre Locken im warmem Fahrtwind und fiel ein: „I`ve got a feeling ... that tonight`s gonna be a good night, that tonight`s gonna be a good good ni-i-ight ...”

      Fröhlich die Black Eyed Peas grölend, bogen sie in den Dannenberger Ortskern ein und parkten die Gelbe Gefahr vor der Polizeiwache. Nebenan bei Tante Lina wurde draußen ein Tisch frei. Glücklich seufzend plumpste Sabije in einen bequemen Rattansessel. Inga setzte sich ihr gegenüber und schlüpfte unter dem Tisch aus den Sandaletten, um ausgiebig mit den Zehen zu wackeln. Pippi Langstrumpf wusste schon, was gut war, dachte Inga. Mit den Zehen zu wackeln war eine der lustigsten Möglichkeiten, seine Lebensfreude auszudrücken. Sie bestellten Antipasti und Mineralwasser. Sabije trank keinen Alkohol. Doch dieselbe Toleranz, die sie für sich selbst wünschte, brachte sie auch anderen entgegen und bot sich bereitwillig als Fahrerin an.

      „Gönn dir ruhig einen Merlot. Ich bekomme den Wagen schon heil zu Drossels zurück.“

      Während Inga ihren Stuhl hin und her rückte, um möglichst viel Sonne zu tanken, fragte sie sich, warum es ihr nie gelungen war, eine so tiefe und gleichzeitig entspannte Gläubigkeit an einen Gott zu entwickeln wie ihrer Freundin. Es schien das Leben so viel leichter und zufriedener zu machen. Sabije wohnte allein, hatte weder einen Lebensgefährten noch Kinder, nicht einmal ein Haustier. Ihre Angehörigen lebten weit entfernt. Und doch fühlte sie sich niemals einsam. Jeden Tag, hatte sie Inga einmal erklärt, beten etliche, tausende Brüder und Schwestern zur selben Stunde wie ich. Wir sind verbunden miteinander, und mit Allah.

      Sie spendete den Zakah, den vorgeschriebenen Teil ihrer Einkünfte, für wohltätige Zwecke, fastete während des Ramadan und versäumte nur dann ihr Salat, das fünfmal täglich zu verrichtende Glaubensgebet, wenn sie in einer wichtigen Verhandlung saß und den Richter nicht zu einer Pause bewegen konnte. War der Anblick einer Dr. jur., die am Ende des Flures oder im Hof auf ihrem Gebetsteppich kniete, anfangs als irritierend empfunden worden, hatte man sich mittlerweile an die muslimische Frau Dr. Rahmani gewöhnt. Bei aller Gottesfürchtigkeit war sie jedoch eine moderne Frau, die sich figurbetont kleidete und selbstbewusst mit Männern flirtete. Sabijes geschulter Verstand unterschied sehr genau zwischen Allahs Willen und diktatorischem Eigennutz. Die aggressive Unterwerfung der Frau durch radikalislamische Männer durchschaute sie als das Bestreben, andere klein zu machen, um selber größer zu wirken. Nur ein starker Mann, wusste Sabije, ertrug, ja wünschte sich eine starke Frau. Allahu akbar - Gott war groß. Es gab keinen Gott außer Allah, und er machte keinen Unterschied zwischen seinen Propheten. Für Sabije wäre es vollkommen undenkbar, einem anderen Menschen ihren Glauben aufzureden, nicht einmal ihrer besten Freundin. Für sie beten, ihr Trost anbieten wenn sie traurig war, ja. Sie bekehren, nein.

      Die Bedienung brachte die Getränke, schenkte Wein aus einer kleinen Karaffe in ein ballonförmiges Rotweinglas, goss stilles Wasser in zwei Gläser. Nachdem sie zum Nachbartisch weitergegangen war, konnte Inga endlich Sabije über Magnus ausfragen.

      „Hast du dich mittlerweile mit ihm getroffen? Irgendwie sind wir immer wieder davon ab gekommen. Du hast erwähnt, dass Ihr Euch bei der Arbeit kennengelernt habt. Wo genau, bei Gericht?“

      „Fast. Im Kühlraum des Rechtsmedizinischen Instituts. Seine Leiche war verschwunden. Ich wollte einen Autopsiebericht abholen, aber der zuständige Mediziner verspätete sich. Wahrscheinlich rannte er mit den anderen Kollegen umher und suchte die Leiche, auf die wie gesagt Magnus wartete. Wir standen also beide da und konnten nicht viel tun als Kaffee aus dem Automaten zu trinken und uns zu unterhalten.“

      „Wie meinst du das, seine Leiche war verschwunden?“

      „Genau wie ich es sage. Magnus ist als Spezialist hinzugezogen worden, um die Schussverletzungen eines Opfers mit den Einschüssen in seiner Kleidung abzugleichen. Als er zum verabredeten Termin in der Rechtsmedizin eintraf, waren alle Beteiligten im Autopsieraum versammelt - bis auf den Toten. Schließlich fand man ihn in einem falschen Kühlfach. Am nächsten Tag rief Magnus mich in der Kanzlei an.“ Sabijes Augen glänzten. „Wir sind dann in der Mittagspause gemeinsam essen gegangen ... Und stell dir vor, er hat mir Blumen geschickt. Einen Riesenstrauß Lilien mit einem Kärtchen: ‚Bewährtes Hausmittel gegen Leichengeruch. Ich würde Sie gerne wiedersehen, M.H.’ Bei Fleurop werden sie sich sicherlich gewundert haben.“

      Beide Frauen lachten.

      „Da ist aber was dran. Wozu sonst die ganzen Kränze und Gestecke bei Beerdigungen?“ Inga vermutete, dass es diesen Brauch nicht gäbe, wenn das Raumspray einige hundert Jahre früher erfunden worden wäre. Jedenfalls schien Magnus Sinn für Humor zu haben. „Und? Hast du ihn wiedergesehen?“ Sie wünschte ihrer Freundin so sehr ein wenig mehr Glück in der Liebe.

      Obwohl Sabije gern und häufig flirtete, hielt sie sich und ihr Herz zurück, sobald es ernst wurde. Viele männliche Muslime betrachteten sie als Gotteslästerin, da sie sich nicht blind unterwarf. Andersgläubigen Männern blieben ihre Gebete, ihr Fasten suspekt.

      Es hatte einmal eine große Liebe in ihrem Leben gegeben, als sie siebzehn war. Gemeinsam waren sie in der Anti-Atom-Bewegung aktiv gewesen, zwei junge verliebte Menschen mit großen Idealen. Staatsangehörige der Freien Republik Wendland. Bei der radikalen Räumung des Hüttendorfes in Gorleben zerbrach unter den Gummiknüppeln der Polizei alles. Sabijes Freund war nie wieder derselbe, betäubte ständige Kopfschmerzen und ohnmächtigen Frust mit Alkohol, verlor seinen Job und jeglichen Zugang zu positiven Gefühlen. Schließlich stürzte er sich von einem Baugerüst. Eine schreckliche Zeit, in der Inga keinen Moment von Sabijes Seite wich, mit ihr im selben Bett schlief und sie überallhin mitschleppte.

      Dies und ihr tiefer Glaube halfen Sabe schließlich wieder auf die Füße. Hartnäckiger als zuvor kämpfte sie gegen Atomkraft und für die Rechte friedlicher Demonstranten. Sie beriet Teilnehmer gewaltfreier Aktionen und verteidigte Aktivisten vor Gericht wie eine Löwin ihre Jungen. Nie wieder sollte in diesem Land ein Mensch, der keinem etwas zuleide tat, dafür zusammengeschlagen werden, dass er einfach nur unbequem war. Kein Farbiger von einer Rotte Neonazis, kein Demonstrant von einer Hundertschaft überforderter СКАЧАТЬ