Название: Der große Reformbetrug
Автор: Udo Schenck
Издательство: Bookwire
Жанр: Социология
isbn: 9783738045604
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Kummer, Frust und Sorgen über ungelöste oder unlösbare Konflikte, über verpasste Gelegenheiten im Gespräch mit Angestellten im Jobcenter, über die linkische und herabwürdigende Behandlung von diesen Mitarbeitern, über die eigene Ohnmacht, über ständige Enttäuschungen und Perspektivlosigkeit lassen einen nicht zur Ruhe kommen, nicht einschlafen, zu früh aufwachen und dann nicht mehr einschlafen, ständig im Stand-by-Modus, ständig unter Strom bzw. auf Alarmstufe Gelb. Dass hier die „Fieberkurve“ bei akuter existenzieller Bedrohung (Kürzung oder gar kompletter Wegfall des ALG, drohende Wohnungslosigkeit, nicht zahlen können von Eigenanteilen für eine dringende medizinische Versorgung etc.) noch um einiges nach oben gehen kann (Alarmstufe Rot), ist sicher nachvollziehbar. Entgegen der z. T. noch verbreiteten Annahme, ALG II-Beziehende seien wie früher Arbeitslosenhilfeempfänger von der Zuzahlung zu medizinischen Leistungen befreit, müssen diese wie alle anderen Zuzahlungen bis zu zwei Prozent ihres Jahreseinkommens leisten bzw. ein Prozent bei chronischen Erkrankungen, die jedoch immer restriktiver anerkannt werden.
Ein Dasein unter den Hartz-Gesetzen kann sehr häufig ein ziemlich freu(n)dloses und trostloses Dasein sein. Hier kommt dem Geld als limitierenden Faktor eine sehr zentrale Bedeutung zu, und dies umso mehr je weiter unsere Gesellschaft durch ökonomisiert wird. Was für andere i. d. R. eine Selbstverständlichkeit ist, über die sie nicht nachdenken müssen, wie z. B. sich unbeschränkt von A nach B befördern lassen zu können, ist für viele ALG II-Beziehende in Ermangelung von Fahrgeld für ein öffentliches Verkehrsmittel schon lange nicht mehr selbstverständlich. Allerdings beschränken sich diese Probleme nicht nur auf diesen Personenkreis, sondern sie erfassen eine wachsende Zahl von prekär Beschäftigten, Rentnern, Jugendlichen, Sozialhilfeempfängern und Kranken, worauf in den folgenden Kapiteln noch näher eingegangen wird. Bereits hier werden nicht selten viele Aktivitäten, wie der Besuch von Freunden und Verwandten, der Ausflug ins Grüne oder zu irgendwelchen Veranstaltungen im Keim erstickt – sie sind nicht mehr erreichbar. Der Besuch irgendeines Volkshochschulkurses, eines Tanzkurses oder das Entrichten eines Mitgliedsbeitrages für einen Sportverein gerät zum unerfüllbaren Luxus. Zwar sind z. B. in Berlin die Kursgebühren für Volkshochschulkurse deutlich für Bedürftige ermäßigt, jedoch sind die Kursgebühren in den letzten Jahrzehnten so drastisch angehoben worden, wie für viele andere öffentliche Dienstleistungen, wie z. B. für die Benutzung von Schwimmbädern (Politik des schlanken Staates, s. u.), dass die genannten Ermäßigungen diese Kursgebührerhöhungen längst nicht mehr ausgleichen. Und wenn das Geld ohnehin weder vorne noch hinten reicht bleibt eben auch kein einziger Euro für o. g. Ausgaben übrig. Früher erwarb der Autor regelmäßig eine ganze Reihe von Zeitschriften und Nachrichtenmagazinen. Dies, wie der regelmäßige und ganzwöchentliche Erwerb einer seriösen Tageszeitung, ist unerschwinglich geworden. Das Internet bietet dafür nur bedingt einen Ersatz, den es aber ebenfalls nicht umsonst gibt, zumal nun immer häufiger Nutzungsgebühren ins Gespräch kommen.
Abgesehen von der Wohnungsmiete müssen von einem monatlichen Regelsatz im SGB II von 382 Euro (2013) für einen Erwachsenen alle anderen Bedarfe abgedeckt werden. Legt man für einen durchschnittlichen Monat 30,5 Tage zugrunde, hat man also durchschnittlich rund 12,52 Euro pro Tag zur Verfügung, von denen wie gesagt das ganze Leben bestritten werden muss. Anschaffungen wie Waschmaschinen, PC, Möbel, Kleidung usw., die früher von der Sozialhilfe separat und voll erstattet wurden, müssen heute allein von den 382 Euro ALG II finanziert werden. Dieses Geld reicht also gerade zu einem nackten Dasein („Existenzsicherung“) bzw. zu einem langsamen, allmählichen Absterben, einem Dahinsiechen, nicht aber für o. g. „Luxus“, es sei vielleicht denn, man verlegt sich auf das enthaltsame und geistige Leben eines Mönches, wozu man sich jedoch ernsthaft berufen fühlen sollte. Besagter Regelsatz setzt sich aus verschiedenen Bedarfskategorien zusammen. So sind z. B. für die Mobilität, also den Bedarf „Verkehr“ 6,3 Prozent des Regelsatzes vorgesehen, was 24,07 Euro entspricht. Z. B. eine ermäßigte, sog. Sozialmonatskarte, mit der man sich ausschließlich im Berliner Stadtgebiet bewegen kann, ohne Beförderung eines Fahrrades, die extra bezahlt werden muss, kostet aber Anfang 2013 bereits allein 36 Euro. Für den Bedarf „Wohnen, Energie, Wohninstandhaltung“ werden 31,94 Euro veranschlagt. Der allein wohnende Autor zahlt allein für Strom monatliche Abschläge von 35 Euro bei einem Jahresstromverbrauch von 1.177 kWh (2012). Der durchschnittliche Jahresstromverbrauch eines 1-Personenhaushaltes betrug im Jahr 2012 nach Angaben des Versorgers Vattenfall Europe Sales GmbH 2.050 kWh. Für den Bedarf „Bildung“, die doch immer wieder als so überaus relevant hervorgehoben wird (Zitat v. Bundeskanzlerin Angela Merkel: „Wir müssen es schaffen, dass lebenslanges Lernen wirklich Alltag wird“) werden im Regelsatz 0,38 Prozent (!) ausgewiesen, was stolzen 1,46 Euro entspricht. Das, was hier über die Regelsatzbedarfe hinaus ausgegeben wird, muss also woanders eingespart, oder irgendwie anders beschafft werden, fragt sich nur wie.
Mit Freunden, die mal ins Kino und danach ein Bier trinken gehen wollen, die mal essen gehen wollen oder die verreisen wollen kann man nicht mehr mithalten und nach und nach wird man abgehängt. Dann kommen von diesen Freunden und Bekannten häufig noch gut(?) gemeinte Ratschläge – mach doch was anderes (beruflich). Nur was, das wissen sie zumeist nicht – die aber häufig aus Unkenntnis nicht praxistauglich sind oder einfach nur so dahingesagte und von jeder Herzenswärme und Gewissenhaftigkeit verlassene „Ratschläge“ aus einer Laune heraus, womit sich dann allmählich die Spreu vom Weizen trennt, also nur noch wenige oder gar keine Freunde mehr übrig bleiben, die diesen Namen verdienen. Und so kann es kommen, dass man da am einsamsten ist, wo man am dringendsten eine/n Freund/in bräuchte. Unangenehm, peinlich bis demütigend können Einladungen von Freunden und Bekannten u. a. zu Geburtstagen werden, weil man kein Geld für Geschenke hat, wenngleich man doch so gern etwas verschenken möchte. Aus Scham meiden die Betroffenen dann nicht selten solche Einladungen, womit soziale Beziehungen Risse bekommen und sich allmählich auflösen können. Und erst recht tut es besonders dann weh, kann man seinen eigenen Kindern nichts, oder nicht das schenken was sie sich wünschen, was aber für andere, besser situierte Menschen überhaupt kein sichtbares Problem ist, mit dem sie sich beschäftigen müssen. So „frohe“ (Konsum)Feste wie Weihnachten können sich dann schon mal zu einem wahren Alptraum auswachsen, dem man mit Grausen entgegenblickt.
Vor ähnlichen Problemen stehen verschieden- und gleichgeschlechtliche Partnerschaften, wobei Männer, die ökonomisch nichts mehr zu bieten haben, scheinbar noch betroffener sind. Es scheint so, dass in diesen wirtschaftlich schlechten Zeiten viele Frauen ihr Augenmerk wieder mehr auf besser situierte Männer ausrichten, als das in den vergangenen zwei, drei Jahrzehnten der Fall war. So erscheinen Männer, die keine Familie ernähren können als unattraktiver. Aber auch die Tatsache, dass nach den Hartz-Gesetzen der/die unverheirateten Lebenspartner/in in Notsituationen (Arbeitslosigkeit) füreinander einstehen sollen, führt zu Trennungen und häufig auch dazu, dass Partnerschaften mit ALG II-Beziehenden erst gar nicht mehr eingegangen werden. Übrigens mögen auch diese Umstände, neben den häufigen wirtschaftlichen und beruflichen Problemen gerade junger Menschen, ihren Teil zu der geringen Geburtenrate in unserem Lande beitragen, werden doch die demographischen Veränderungen so gern zur Rechtfertigung für weitere einschneidende „Reformen“ СКАЧАТЬ