Название: Der große Reformbetrug
Автор: Udo Schenck
Издательство: Bookwire
Жанр: Социология
isbn: 9783738045604
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Wenn man nun gutgläubig davon ausgeht, die Jobcenter würden einfach nur Fehler machen, aufgrund von Unfähigkeit und Inkompetenz, weil sie es nicht besser könnten, dann müsste man jedoch nach allen Regeln der Wahrscheinlichkeit zwingend davon ausgehen, dass sich diese Fehler ebenso häufig zugunsten, wie zuungunsten der sog. Kunden auswirken würden, weil es ebenso wahrscheinlich ist einen Fehler zugunsten, wie zuungunsten der sog. Kunden zu machen. „Verrechnet“ sich das Jobcenter z. B. bei der Anrechnung von Arbeitseinkommen auf Transferleistungen, so geschieht dies in den seltensten Fällen zugunsten der sog. Kunden. Das bekannte Beispiel einer gewöhnlichen Münze mit ihren zwei Seiten bzw. Möglichkeiten auf den Boden zu fallen, die den o. g. zwei Möglichkeiten entsprechen zugunsten und zuungunsten der sog. Kunden einen Fehler zu machen, mag das Problem noch einmal verdeutlichen: Würden Sie eine Münze mit ihren zwei Seiten (Kopf und Zahl) oft genug werfen, würden Sie feststellen, dass sich die Zahl der Würfe von Kopf und Zahl immer mehr angleichen, je öfter Sie werfen. Nach z. B. 1000 Würfen würden mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit beide Seiten der Münze gleich häufig geworfen worden sein, voraus gesetzt beide Seiten der Münze sind gleich schwer, womit also gleiche Ausgangsbedingungen gegeben wären. D. h. also 500 Mal Kopf und 500 Mal Zahl. Ähnliches gilt z. B. auch für den ungezinkten, idealen Spielwürfel, der sechs Flächen bzw. Möglichkeiten hat, auf dem Boden oder Spieltisch zu landen. Auch hier gilt: Jede Fläche bzw. Augenzahl hat die gleiche Chance geworfen zu werden, was zur Folge hat, dass der Wurf einer Eins ebenso wahrscheinlich bzw. letztendlich so häufig ist wie der Wurf einer Sechs oder der einer Drei usw. Probieren Sie es einfach mal aus. Man könnte nun noch weiter mit statistischen Testverfahren ins Detail gehen, wie z. B. mit dem sog. „Chi-Quadrat-Test“, mit dem zu erwartende Häufigkeitsverteilungen untersucht werden, aber mit Rücksicht auf Leser, die weniger an Statistik interessiert sind, soll es an dieser Stelle genug damit sein.
Wie aber eingangs beschrieben, erfolgen sog. „fehlerhafte“ Bescheide und Entscheidungen der Jobcenter fast ausschließlich zulasten der sog. Kunden und nicht etwa in einem ausgewogenen Verhältnis zugunsten oder zuungunsten dieser, so wie dies den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit nach zumindest annähernd zu erwarten wäre. Demnach kommen wir gar nicht darum herum, feststellen zu müssen, dass es bei den meisten „fehlerhaften“ Bescheiden und Entscheidungen der Jobcenter nach allerhöchster Wahrscheinlichkeit nicht mit rechten Dingen vor sich gehen kann. Damit ist jedoch nach landläufiger Meinung leider noch nicht bewiesen, das hier manipuliert bzw. betrogen wird. Es geht hier „nur“ um Wahrscheinlichkeiten, die eine Ausflucht der andern Möglichkeit offen lassen, wenn auch nur die unwahrscheinlichste, angesichts der erdrückenden Zahlenverhältnisse wie hier, die aber nicht völlig auszuschließen ist. Dennoch offensichtlich wird also zulasten der sog. Kunden manipuliert, wobei sich nur fragt, wie hoch dabei die Anteile sind, die auf interne Weisungen der Behörden und der darüber liegenden Ebenen der Politik zurück gehen, oder auf übereifrige und Karriere bewusste Mitarbeiter in den Behörden, die ihrem voraus eilenden und gewissenlosen Gehorsam folgen.
Ein-Euro-Job – Gestohlene Lebenszeit, Energie und Chancen
Im Frühjahr 2005 wurde dem Autor ein sog. Ein-Euro-Job, eine Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung zugewiesen; sechs Stunden am Tag, fünf Tage die Woche und für 1,50 Euro die Stunde als Mehraufwandsentschädigung zum ALG-II hinzu, Sozialversicherungsfrei (vgl. u. a. Kap. 5.2.1). Der Träger dieser Maßnahme bzw. die sog. Beschäftigungsgesellschaft erhielt vom Jobcenter pro Teilnehmer und Monat 550 Euro. Der Autor war unmittelbar nach diesem Ein-Euro-Job bei o. g. Beschäftigungsgesellschaft als Projektleiter tätig, weshalb ihm u. a. diese Zahlen zugänglich waren. Von diesen 550 Euro bekamen die Teilnehmer der Maßnahme bei voller Anwesenheit maximal 180 bis 190 Euro im Monat als Mehraufwandsentschädigung erstattet. Tatsächlich war dies häufig weniger, da Krankheit und jegliche andere Fehlzeiten, auch gesetzlicher Urlaub, von der Arbeitszeit abgezogen wurden.
Mit gut einem Dutzend zumeist anderen Akademikern aus den unterschiedlichsten Fachrichtungen, unter denen sich auch zwei Doktoren befanden, wurde ich in einem Projekt eingesetzt, dass sich Umwelterziehung nannte. Unser Projekt lief in Kooperation mit einer Grundschule, die sich in einem gut situierten Ortsteil Neuköllns (Rudow) – auch das gibt es – am Rande der Stadt befand. Mit dem prekär beschäftigten Projektleiter zerbrachen wir uns zunächst die Köpfe darüber, wie wir uns überhaupt in dieses Projekt einbringen können, wobei zunächst einmal die ziemlich konfusen Vorstellungen des jungen Projektleiters und des Trägers zutage traten, nach dem Motto: Hauptsache der Rubel rollt. Schließlich wurden Gespräche mit der besagten Schule geführt, wobei sich herausstellte, dass sie einen Schulgarten hatte, um den sie sich aber infolge von Mittelkürzungen nicht mehr wie früher kümmern konnte. Also kamen wir auf den Gedanken aus dem Schulgarten einen ökologischen Muster- und Lehrgarten zu gestalten. In der Tat war das ein sehr kreativer Prozess, der uns ebenso viel Spaß bereitete. Was wir dort machten war nichts anderes als eine landschaftsarchitektonische und gärtnerische Umgestaltung des Schulgartens. So fanden wir tatsächlich zwei Gartenbau- und Landschaftsingenieure oder Landschaftsarchitekten neben einem Gärtner in unseren Reihen, die dem Projekt seine wesentlichen Konturen gaben. Letztendlich fand so ziemlich jeder seiner Facon gemäß eine Aufgabe. Der Autor kam auf die Idee eine Sonnenuhr zu bauen, wozu er sonst womöglich sein ganzes Leben lang nicht mehr gekommen wäre. Zum Glück wurden wir das gesamte Frühjahr und den Sommer hindurch von einer gut gelaunten Sonne verwöhnt, sodass da auch einige Stunden des amüsanten Zusammenseins in angenehmer Erinnerung bleiben werden.
Wir hatten allerdings keinen Bauwagen zur Verfügung, in den wir uns bei schlechtem Wetter hätten begeben können, noch wurden uns Arbeitskleidung oder Sicherheitsschuhe zur Verfügung gestellt, abgesehen von den billigsten Arbeitshandschuhen. Und sonst hantierten da einige von uns mit elektrischen Garten- und Baugeräten, mit denen sie nie gelernt hatten umzugehen. Versicherungstechnisch befanden wir uns da auf ziemlich dünnem Eis. Zudem wurde unsere Tätigkeit mehr oder weniger beständig von der Frage nach unserer beruflichen Zukunft überschattet bzw. von dem nicht unberechtigten Zweifel daran, ob dieser Ein-Euro-Job als Referenz für einen erfolgreichen Wiedereinstieg in das Arbeitsleben taugt, vor allem wenn man zu den höher Qualifizierten gehörte. Es fragte sich, ob man sich mit diesem Hintergrund nicht viel eher lächerlich auf dem Arbeitsmarkt machen würde, nicht zuletzt auch angesichts der damals aufkommenden Stigmatisierung der Menschen, die sich in Hartz IV befanden und allem was damit in Verbindung gebracht wurde, so auch Ein-Euro-Jobs. So kam die Überlegung auf, ob man diesen Abschnitt in seiner Biographie nicht besser vielleicht sogar verschweigen sollte, womit dann allerdings wieder eine größere Lücke im Lebenslauf entstehen würde, die ebenfalls unschön aussehen würde. Auf der anderen Seite war aber offensichtlich, dass wir qualifizierte Arbeit verrichteten, die an dieser Stelle einmal viel besser und anständig bezahlt wurde, neben der Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen, die uns vorenthalten wurden und, und, und. Denn was viele mit Herzblut und geringen Mitteln in diesem Projekt schufen, einen prächtig blühenden Garten, konnte sich durchaus sehen lassen. Den ein oder anderen dämmerte allmählich, dass sie sozusagen die Arschkarte gezogen hatten und sich demzufolge mehr um ihre Zukunft sorgen mussten. Bemerkenswert war aber an dieser Schule auch die Erfahrung, dass man sich heutzutage offenbar schwer tut, den Kindern Achtsamkeit und Respekt zu vermitteln, denn mehr als einmal wurden Blumenbeete und Pflanzen niedergetrampelt. In gewisser Weise hatte dies Symbolcharakter.
Es wurde Herbst und es wurde Winter und die Tage unter freiem Himmel wurden immer rarer und grauer. So wurden in diese Zeit die obligatorischen „Qualifizierungseinheiten“ verlegt, die integraler Bestandteil von Ein-Euro-Jobs sind und etwa einen halben, bis zu einem ganzen Tag pro Woche in Anspruch nahmen. Zumeist überbot man sich hier in Dünnbrettbohrerei, wie etwa in der Vermittlung von Grundrechenarten, und das wohl bemerkt zumeist für Akademiker. Dann gab es einen großen Block, der sich Sozialkunde nannte und der eigentlich nur ein Sammelsurium von Allerweltsthemen und alten СКАЧАТЬ