Название: DIE SUCHE NACH DER MACHT
Автор: Stefan Sethe
Издательство: Bookwire
Жанр: Социология
isbn: 9783847635956
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Auch die Macht der Kirchen hat sich in Deutschland weitgehend verflüchtigt (anders z.B. in Polen, wo Johannes-Paul II noch ungeheuren Einfluss hatte). Ein letztes Aufbäumen auch in Deutschland konnte gleich nach der Wende 1990 beim katholischen Bischof in Erfurt beobachtet werden, der eine radikal klerikale Personalpolitik durchsetzte. Obgleich die Katholiken in Thüringen kaum die Fünfprozenthürde überspringen, gelang es dennoch, die drei ersten Ministerpräsidenten, das halbe Kabinett und den Oberbürgermeister der Landeshauptstadt aus den Reihen der Katholischen Kirche zu rekrutieren und die ersten Beamtenstellen ausschließlich mit Katholiken zu besetzen. Doch auch diese Episode dürfte der Vergangenheit angehören.
Bleibt als möglicher Machtfaktor die Presse. Doch die Einflussmöglichkeiten der Medien sind sehr begrenzt, wie jetzt wieder Berlusconi feststellen musste. Der in Berlin seinerzeit monopolistisch agierenden Springerpresse gelang es über Jahrzehnte nicht, die SPD in Berlin von der Regierung zu verdrängen. Und obgleich zeitweilig alle Medien vom Bayernkurier bis zur Frankfurter Rundschau in seltener Eintracht versuchten, die Ablösung Helmut Kohls als Kanzler herbei zu schreiben und zu reden, konnte sich jener länger als jeder andere im Amt behaupten.
Gleichwohl besitzt die Presse insofern eine große Macht, als Politiker glauben, die Presse habe Macht zur maßgeblichen Beeinflussung. Daher orientieren die Politiker ihr Handeln oft an den Reaktionen oder möglichen Reaktionen der Presse. Der Pressesprecher ist allerorts der wichtigste Mann. Kaum jemand hat so ungehindert Zutritt zu den jeweiligen Vorsitzenden in Politik, Verwaltung und Wirtschaft. Nichts wird morgens so dringend erwartet und intensiv gelesen und diskutiert, wie der tägliche Pressespiegel. Aus dieser Fehleinschätzung entsteht dann eine Interdependenz, die man sehr wohl als eine besondere Art Machtzentrum bezeichnen kann.
Die Erkenntnis, dass Macht sich in Pressestellen entwickelt, ließ mich letztlich eine Karriere im Bereich Presse- und Öffentlichkeitsarbeit anpeilen, zumal in den Pressestellen interdisziplinär alle Fäden zusammen laufen. Ich hatte als FDP-Fraktionssprecher im Bundestag schließlich wesentlich mehr Einflussmöglichkeiten als jeder normale Bundestagsabgeordnete, konnte Meldungen und Informationen filtern, abschwächen oder verstärken, verfügte über diverse Privilegien, übernachtete nur noch in den Spitzenhotels etc. In dieser Position wird man von Journalisten ebenso hofiert wie von Ministern, und ebenso in den Kanzlerbungalow eingeladen wie ins Gästehaus des Staatsratsvorsitzenden der DDR.
Gedanken zur Sozialen Selbstverantwortung
Aber was macht man mit der Macht? Ich spürte, dass mir die Kraft fehlen würde, selbst etwas zu verändern, verlegte mich aufs Schreiben, aufs Analysieren, aufs Mahnen. Ich verfasste oft im eigenen Namen, meist aber im Auftrag und unter dem Namen bekannterer Politiker unzählige Kolumnen. Die seinerzeit von mir verfassten Beiträge und Analysen haben an Aktualität und Brisanz kaum eingebüßt. Das spricht allerdings weniger für den Autor, sondern stellt vielmehr unserer Gesellschaft ein Armutszeugnis aus, weil sich die Problemlagen weiter verschärft haben und sich die Unfähigkeit zu Handeln (um Mitscherlich abzuwandeln) zementiert hat. Der Altliberale (war er je ein Liberaler?) Hans-Dietrich Genscher und der Neuliberale Christian Lindner haben kürzlich gemeinsam ein Buch mit dem Titel „Brückenschläge“ herausgebracht. Sie hätten es sich sparen können. Letztlich gibt es im Kern nur wieder, was ich vor 30 Jahren schon in der Neuen Bonner Depesche als liberale „Kampfschrift“ und zur eigenen Standortbestimmung veröffentlichte:
Mehr Mut zum Liberalismus
Stefan Sethe - Neue Bonner Depesche; Mai 1984
Die Wahlen in Baden-Württemberg haben erneut gezeigt. dass die Grüne „Bewegung" in der Tat mehr ist als eine Partei. Kriterien, die üblicherweise für den Erfolg einer Partei ausschlaggebend sind (Geschlossenheit, personelle Identifikationsmöglichkeit, positive Tätigkeitsbilanz, programmatische Stringenz, offensiver Wahlkampf) spielten bei der Stimmabgabe für die Grünen keine entscheidende Rolle. Östliche Gesprächspartner sehen in der Grünen Bewegung bei uns ein typisch revolutionäres Potential. Wenngleich sich die Zielsetzung der Grünen nicht mit marxistischen Maßstäben messen lässt. Das grüne Protestpotential wendet sich nicht in erster Linie gegen die politischen Machtverhältnisse im Grundsatz sondern gegen die Art der Ausübung.
Dahinter stehen mehr oder minder diffuse Ängste vor der Vernichtung unseres Lebensraumes durch Umweltverschmutzung oder Krieg. Ängste, die tiefer liegen als dass sie sich durch die Umarmungstaktik der SPD, zum Beispiel bei der Abstimmung über die NATO-Nachrüstung, beruhigen ließen. Dahinter steht aber auch eine tiefe Sorge um die Entpersönlichung in unserer Gesellschaft. Die Unzufriedenheit der Übersättigten mit sich selbst wird ebenso auf die „etablierten“ Parteien abgeladen wie die Sorgen, die mit Schlagworten verbunden sind wie: Entmündigung des Bürgers, Bürokratie, Entfremdung vom Staat und vom Nächsten. Die Ungeduld der Jugend trifft zudem auf eine extreme Risikoscheu bei den Älteren.
Im Grunde geht es um nicht mehr und nicht weniger als um das Aufleben urliberalen Gedankengutes. Versucht man in die Kramladenprogrammatik der Grünen einige durchgängige Linien zu ziehen, so stößt man hinter dem Umwelt und dem Friedensthema unweigerlich auf typische Gesichtspunkte des Liberalismus: Selbstverwirklichung und -bestimmung. Eigeninitiative, Selbstverantwortung und Selbsthilfe bei den Bürgern, dezentrale Demokratie, Autonomie, bürgernahe Selbstverwaltung, überschaubare Produktionseinheiten (kleine und mittlere Betriebe sind zu fördern), Entbürokratisierung.
Auch die Grünen sind gegen die „Verharzung“ der Gesellschaft, wie es Ralf Dahrendorf nennt, wobei sich allerdings die Liberalen von den grünen Programmatikern durch ihre Leistungs- und Wettbewerbsorientierung unterscheiden.
Die Gesellschaft, vor allem die Jugend, verlangt immer stärker nach Liberalismus, ohne sich dessen bewusst zu sein, denn Liberalismus hat für viele noch etwas Antiquiertes. Man denkt an den Kampf gegen Absolutismus und kirchliche Willkür, man denkt an den Wirtschaftsliberalismus der 50er Jahre oder den Sozialliberalismus, der, nicht immer zu Recht, mit dem Namen Karl-Hermann Flach verbunden wird. Heute braucht jedoch Liberalismus keine schmückenden Attribute mehr. Der karge, kämpferische Urliberalismus ist wieder gefragt und mehr denn je von Nöten.
Die Liberalen haben zwar die Bürgerrechte erzwungen, die Bürgerpflichten kamen dabei jedoch zu kurz. Im ausgehenden 20. Jahrhundert ist die Freiheit des Einzelnen und damit die Würde des Menschen nachhaltiger in Gefahr als je zuvor. Heute ist der pure Liberalismus zur gesellschaftlichen Notwendigkeit geworden - nicht als Mehrheitsbeschaffer oder Koalitionskorrektiv - sondern als bestimmende gesellschaftliche Kraft. Der Wahlspruch von 1976 „F.D.P.: Die liberale Alternative" war insofern verfehlt, als es einfach keine vernünftige Alternative zum Liberalismus mehr gibt.
Freiheit wird zunehmend zu einem Synonym für Verantwortung. In früheren Gesellschaften war der Zwang zur Selbstverantwortung und zur Mitverantwortung für den Familienverband, die Gemeinde, den Hof, den Berufsstand oder die Stadt eine Selbstverständlichkeit. Kein Absolutismus, keine Tyrannei konnten daran etwas ändern. Im Zeitalter des Wohlfahrtsstaates, der Pille, der anonymen Hochhäuser, der Wegwerfgesellschaft ist dieser Zwang nicht mehr gegeben. In gleichem Maße nimmt die Freiheit des Einzelnen ab. Die Krankheitssymptome der Gesellschaft nehmen zu. Wer fragt schon noch als erstes: Wie kann ich mir selbst helfen, wie weit gehen meine eigenen Möglichkeiten?
Es fehlt an Mut für kühne Würfe. Der Weg des geringsten Risikos ist zwar kurzfristig der sicherste, führt aber langfristig auch am sichersten in die Erstarrung. Die Kreativität des Einzelnen muss wieder in den Vordergrund der Überlegungen СКАЧАТЬ