Название: Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen
Автор: Sibylle Reith
Издательство: Bookwire
Жанр: Медицина
isbn: 9783754949412
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Abb. 2.2.1/3 Zwei Faktoren bewirken, dass EmKE seit Jahrzehnten kontrovers diskutiert werden
„Medizinisch unerklärlich“ bedeutet, dass mit Hilfe der verwendeten diagnostischen Routine-Methoden kein organischer Befund erhoben werden konnte und von dem Behandler angenommen wird, dass auch weiterer diagnostischer Aufwand keinen organischen Befund erbringen würde. |
Möglicherweise werden Patienten aber auch an Fachärzte weiterverwiesen. In Deutschland gibt es 34 medizinische Fachdisziplinen, wie die Allgemeinmedizin, die Immunologie oder die Neurologie. Mehrere dieser Facharztrichtungen sind wiederum in weitere medizinische Spezialgebiete unterteilt. Betroffene Patienten verbringen sehr viel Lebenszeit in mehreren unterschiedlichen (Fach-)Arztpraxen – doch auch hier ergibt sich keine Erklärung für die Beschwerden. Die werden daher als psychisch bedingt interpretiert. } Siehe Kapitel 31 Multisystemische Erkrankungen sind jedoch „Ganzkörper-Erkrankungen“, die die patientenzentrierte interdisziplinäre Kooperation mehrerer Fachdisziplinen und spezifische Untersuchungen erfordern. Die üblichen sieben bis acht Minuten, die ein Hausarzt pro Patientenkontakt investiert, reichen für eine effektive Versorgung komplexer, chronischer Multisystem-Erkrankung bei weitem nicht aus. Die „Sprechende Medizin“ muss besser honoriert werden.
Medizinisch erklärbar
Der Titel des Buches, Explaining unexplained Illnesses von Prof. Pall weist darauf hin, dass zwischen „medizinisch unerklärlich“ und „medizinisch erklärbar“ offenbar eine Wahrnehmungs- bzw. Wissenslücke vorliegt. Zuordnungen zu psychogenen Klassifizierungen sind folglich an der Tagesordnung, wie man zahllosen Patienten-Berichten entnehmen kann.
Die Tatsache, dass mit üblichen Standard-Untersuchungen und der Routine-Labordiagnostik keine auffälligen Befunde ans Licht kommen, lässt jedoch nicht den Umkehrschluss zu, dass diese nicht vorhanden sind! |
Die komplexmedizinische Diagnostik
Vielfach entpuppen sich „Unerklärliche Beschwerden“ anhand objektivierbarer Befunde als (schwerwiegende) behandlungsbedürftige immunologische, neurologische und/oder metabolische Entgleisungen.
Wenn nachweisbare molekularbiologische und umweltmedizinische ursächliche Aspekte nicht untersucht werden, bleiben „rätselhafte“ chronische Erkrankungen medizinisch ungeklärt. Diese spezifischen Untersuchungen nenne ich „komplexmedizinische“ Diagnostik.
Mit Hilfe der NextGen Metabolomics können heute mit einer einzigen Blutprobe über 500 Moleküle aus mehr als 60 verschiedenen biochemischen Stoffwechselwegen gemessen werden. Diese innovativen, massenspektrometrischen Technologien werden in der Forschung eingesetzt. Moderne Technologien führen zu einer riesigen Kluft zwischen (alltäglicher) klinischer Anwendung und (Spitzen-)Forschung.
Wir werden sehen, dass engagierte Behandler in der Zusammenarbeit mit ebenso engagierten Laboren eine ganze Reihe praktikabler und bezahlbarer komplexmedizinischer Untersuchungen und Therapien entwickelt haben, die die Lebensqualität multisystemisch erkrankter Patienten in zahllosen Fällen moderat bis massiv verbessert haben.Die Kosten dieser komplexmedizinischen Versorgung werden derzeit dennoch nicht regelhaft von den Krankenkassen übernommen. Viel EmKE-Patienten haben kein Arbeits-Einkommen und können sie sich unter diesen Rahmenbedingungen diese Versorgung nicht leisten. |
Was sind Omics?
Die Endsilbe -omic (auf Deutsch -omik) wird verwendet, um die Gesamtheit eines Untersuchungsobjektes zusammenzufassen. „Omics“-Technologien umfassen molekularbiologische Methoden, die mit Hilfe von Hochdurchsatz-Technologien in kürzester Zeit globale, hochaufgelöste molekulare Profile von Zellen und Geweben erstellen. Etymologisch geht der Begriff auf das Sanskrit-Wort OM zurück, das „Vollkommenheit und Fülle“ bedeutet.
Zu den -Omiks zählen z. B.:
Genomik: Gesamtheit der Gene
Proteomik: Gesamtheit der Proteine
Metabolomik (auch Metabonomik): Gesamtheit der Metaboliten/Stoffwechselprodukte
Proteomik: Gesamtheit der Proteine
Transkriptomik: Gesamtheit der Transkriptomen (mRNA). Sie zeigt, welche Gene gerade aktiv abgelesen werden.
Lipidomics: Gesamtheit der Lipide.
Glycomics: Gesamtheit der Zucker und Kohlenhydrate.
Epigenomik: Gesamtheit der epigenetischen Modifikationen.
Mikrobiomik: Genome der Mikroorganismen.
Connectomics: Connectome, der Gesamtheit der neuronalen Verbindungen im Gehirn.
Individuell
Regional, national und international gleicht kein Mensch dem anderen: wir haben individuell sehr unterschiedliche Genom-, Proteom-, Metabolom- und Mikrobiom-Identitäten. Jeder Mensch hat schon allein genetisch und epigenetisch einen einzigartigen und individuellen Fingerprint unterschiedlicher Merkmale: z. B. Polymorphismen, Mutationen oder RNAs.
Mit Hilfe der Omic-Technologien können Schadstoff-Expositionen ebenso nachgewiesen werden wie Veränderungen im Stoffwechsel als Reaktion auf Expositionen. Diese Technologien haben das Potenzial, unser Verständnis über Krankheitsursachen und über Krankheitsverläufe maßgeblich zu erweitern.
Big Data
Die Methoden der Molekularbiologie (-Omics) werden ergänzt durch weitere KI (Künstliche Intelligenz) Technologien. Der Einsatz dieser Technologien, die zu riesigen Datenansammlungen, zu „digitalen Zwillingen“ und zu „gläsernen Patienten“ führt, hat Licht- und Schattenseiten. } Siehe Kapitel 35
2.2.2 Definitions- und Klassifikationsprobleme
Zwischen allen StühlenDa multisystemisch erkrankte Patienten so viele Variable aufweisen, erleiden sie Defizite in Diagnostik, Therapie und Versorgung. Sie erleben oft über Jahre diagnostische Unsicherheiten, eingeschränkte Behandlungs-Optionen und ggf. schädigende Fehlbehandlungen. Es besteht ein enormer Leidensdruck und damit ein dringender Handlungsbedarf. |
Das „zweite Buch der Medizin“
Erworbene multisystemische (Komplex-)Erkrankungen erfordern als systemische „Ganzkörper-Erkrankungen“eine Erweiterung des Krankheitsbegriffes bzw. ein neues Krankheitskonzept.
Prof. Pall spricht von einem neuen „10. Paradigma“. } Siehe Kapitel 5.5 |
Prof. Robert K. Naviaux leitet das Robert Naviaux Labor an der University of California San Diego School of Medicine/UCSD. Der international anerkannte Experte, forscht zu mitochondrialen und anderen stoffwechselbezogenen Faktoren. In Kapitel 27.3 wird die von Prof. Naviaux erforschte „Cell danger response/CDR (Deutsch: Antwort auf Zellgefahren) beschrieben, die für das Verständnis chronischer Krankheiten wesentlich ist. Prof. Naviaux spricht von einem ersten und zweiten „Buch der Medizin“.
Das erste Buch der Medizin
„Seit 5.000 Jahren geschriebener Geschichte konzentriert sich die Medizin auf die Behandlung von akuten Verletzungen СКАЧАТЬ