Название: Immer mutig
Автор: Paul Scheerbart
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783742766236
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Und der Sturm heult – heult.
Im Rathause erklären die klugen Gelehrten, daß das
kein gewöhnlicher Hagel sei – auch kein gewöhnlicher
Regen.
Und sie kosten alle von den Hagelstücken und trinken
das Regenwasser.
Und sie sagen, da sei ein neuer Stoff drinn – im
Himmel müsse ein Komet geplatzt sein – es müsse ganz
bestimmt ein Komet gewesen sein.
Kometensalz ist der neue Stoff.
Er wirkt nur so komisch.
Wer das neue Salz gekostet hat, dem zieht so was
Weiches durch alle Glieder und die Gedanken werden so
einfach.
Das Kometensalz ist verführerisch wie Alkohol.
Das Kometensalz brennt aber nicht hinten im Munde
und unten im Leibe, reizt nicht auf – es macht genügsam
– still.
Die Menschen, die das Salz im Magen haben, können
bald ihre Gedanken nicht mehr sammeln. Es ist den
Menschen, als ginge Alles fort.
Und dann bleiben die Menschen stehen und gehen
nicht weiter, ihre Glieder werden steif und hart wie Holz,
und der erhobene Arm will nicht mehr runter; die Hand,
die den Hut zum Grüßen zog, bleibt mit dem Hute oben
in der Luft.
Allmählich verhallt der Sturm, und das Wetter wird
wieder besser.
Beim hellen Sonnenschein merkt man aber erst den
Umfang der ganzen Geschichte.
Zehn nasse Soldaten auf dem Übungsplatze vor der
Kaserne stehen auf einem Beine kerzengerade, doch das
andere hochgehobene Bein geht nicht runter. Eine
Bäckersfrau stößt dem einen Soldaten in die Seite, und
alle Zehn fallen um wie hölzerne Soldaten aus einer
Spielschachtel.
Die Luft ist wieder still.
Und die Menschen lecken an dem Kometensalz, das
massenhaft die Erde bedeckt. Die Tiere lecken auch an
dem Kometensalz.
Und dann bleiben die Menschen und die Tiere nach
und nach sämtlich auf der Straße und in den Häusern in
seltsamen Stellungen stehen – sitzen – oder – liegen.
Den Hunden bleibt das Maul offen.
Die Vögel überschlagen sich in der Luft, fallen mit
steifen Flügeln auf die Salzhaufen und rühren sich nicht
mehr.
Ein Leichenzug steht vor einer Kirche und kann nicht
weiter.
Die Bäume werden ebenfalls starr. Die Trauerbirken
und die Trauerweiden verharren in Windstellung – mit
weit weggewehten Ästen – als wütete noch immer der
große Sturm.
Und die Luft ist doch so still.
Und die Menschen und Tiere sind auch so still, als
wüßten sie gar nichts mehr zu sagen.
Ein Schutzmann sitzt auf einer Parkbank unbeweglich
mit einem Strolch zusammen – sie sehen sich unablässig
an.
Ein Regiment dekorierter Nachtwächter befindet sich
vor dem Rathause in konstanter Präsentierstellung.
Die Kinder sind in der Schule nicht mehr zu hören –
so ruhig sind sie.
Und im Rathause sitzen die Gelehrten wie
Wachspuppen da.
Der Bürgermeister, der das Salz nicht anrührte,
schleppt sich müde nach Hause, trinkt im Sorgenstuhl
vor seinem Schreibtisch ein Glas Wasser und sieht am
Ofen seine Frau – sie ist unbeweglich wie ein
abgeschiedener Geist.
Der Bürgermeister faßt sich an den Kopf und ruft
plötzlich angstvoll: »Franziska! Das ist die neue Zeit.«
Aber er kann den Mund nicht mehr zumachen – das
Salz hat auch ihn gepackt – es war im Wasserglase.
Das furchtbare Kometensalz ist überall!
In der Residenz sitzt der König auf seinem Throne
und hält immerfort das Scepter – regiert aber nicht –
denn alle seine Untertanen sind so steif wie er selbst.
Jedoch keinem der Gelähmten geht das Bewußtsein
aus; das Gehirn arbeitet bloß etwas langsamer.
Die Augen behalten ihre Kraft.
Die Ohren hören; es ist nur nicht viel zu hören.
Lauter Salzsäulen an allen Ecken und mitten im Wege!
Lebende Salzsäulen!
Sie sitzen, als wenn sie unablässig nachdächten –
stehen, als hätten sie was vergessen – liegen, als wären sie
dabei, was Feines zu dichten – und rühren kein Glied.
Die Oberfläche der ganzen Erde ist ganz starr
geworden.