Название: Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Zweiter Teil
Автор: Gustav Schwab
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783742772916
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nie bist du mir in der Feldschlacht begegnet, doch jetzt sehe ich dich vor andern weit hervorragen, da
du es wagest, dich meiner Lanze entgegenzustellen; denn mir kommen nur Kinder in den Weg, die
zum Unglücke geboren sind. Bist du aber ein Gott, der sterbliche Gestalt angenommen hat, so
begebe ich mich des Kampfes. Ich fürchte den Zorn der Himmlischen und verlange nicht ferner nach
dem Streite mit unsterblichen Göttern. Doch wenn du ein Sterblicher bist, so komm immerhin heran,
du sollst dem Tode nicht entgehen!« Darauf antwortete der Sohn des Hippolochos: »Diomedes, was
fragst du nach meinem Geschlecht? Wir Menschen sind wie Blätter im Walde, die der Wind verweht
und der Frühling wieder treibt! Willst du es aber wissen, so höre: Mein Urahn ist Aiolos, der Sohn des
Hellen, der zeugte den schlauen Sisyphos, Sisyphos zeugte den Glaukos, Glaukos den Bellerophontes,
Bellerophontes den Hippolochos, und des Hippolochos Sohn bin ich. Dieser schickte mich her gen
Troja, daß ich andern vorstreben und der Väter Geschlecht nicht schänden sollte.« Als der Gegner
geendigt, stieß Diomedes seinen Schaft in die Erde und rief ihm mit freundlichen Worten zu:
»Wahrlich, edler Fürst, so bist du ja mein Gastfreund von Väterzeiten her, Öneus, mein Großvater,
hat deinen Großvater Bellerophontes zwanzig Tage lang gastlich in seinem Hause beherbergt; und
unsere Ahnen haben sich schöne Ehrengeschenke gereicht: der meine dem deinen einen purpurnen
Leibgurt, der deinige dem meinigen einen goldenen Henkelbecher, den ich noch in meiner
Behausung verwahre. So bin ich denn dein Wirt in Argos und du der meine in Lykien, wenn ich je
dorthin mit meinem Gefolge komme. Darum wollen wir uns im Schlachtgetümmel beide mit unsern
Lanzen vermeiden. Gibt es doch für mich noch Trojaner genug zu töten und für dich der Griechen
genug! Uns aber laß die Waffen miteinander vertauschen, damit auch die andern sehen, wie wir uns
von Väterzeiten her rühmen, Gastfreunde zu sein!« So redeten jene, schwangen sich von den
Streitwagen herab, faßten sich liebreich die Hände und gelobten einander gegenseitige Freundschaft.
Zeus aber, der alles, was geschah, zugunsten der Griechen lenkte, verblendete den Sinn des Glaukos,
daß er seine goldene Rüstung mit der ehernen des Diomedes wechselte; es war, wie wenn ein Mann
gegen neun Farren hundert hergäbe.
Hektor in Troja
Hektor hatte unterdessen die Buche des Zeus und das Skäische Tor erreicht. Hier umringten ihn die
Weiber und Töchter der Trojaner und forschten ängstlich nach Gemahlen, Söhnen, Brüdern und
Verwandten. Nicht allen wußte er Bescheid zu geben; er ermahnte nur alle, die Götter anzuflehen.
Doch viele hatten seine Nachrichten in Weh und Jammer versenkt. Jetzt war er am Palaste seines
Vaters angekommen. Dieser war ein herrliches Gebäude, ringsum mit weithin sich dehnenden
Säulenhallen geschmückt; im Innern waren fünfzig Gemächer aus glattem Marmor, eins ans andere
nachbarlich angebaut. Hier wohnten die Söhne des Königes mit ihren Gemahlinnen. Auf der andern
Seite des inneren Hofes reihten sich zwölf Marmorsäle aneinander, wo die Eidame des Königes mit
seinen Töchtern hausten. Das Ganze war von einer hohen Mauer umschlossen und bildete für sich
allein eine stattliche Burg. Hier begegnete Hektor seiner guten Mutter Hekabe, die eben zu ihrer
liebsten und anmutigsten Tochter Laodike zu gehen im Begriffe war. Die greise Königin eilte auf
Hektor zu, faßte ihm die Hand und sprach voll Sorgen und Liebe: »Sohn, wie kommst du zu uns aus
der wütenden Schlacht? Die entsetzlichen Männer müssen uns wohl hart bedrängen, und du kommst
gewiß, die Hände zu Zeus zu erheben. So verziehe denn, bis ich dir vom lieblichen Wein bringe, daß
du dem Vater Zeus und den andern Göttern ein Trankopfer darbringen kannst und darauf dich selbst
mit einem Labetrunk erquicken; denn der Wein ist doch die kräftigste Stärkung für einen müden
Kämpfer!« Aber Hektor erwiderte der Königin: »Laß mir keinen Wein reichen, geliebte Mutter, daß
du mich nicht entnervest und ich meiner Kraft vergesse; auch dem Göttervater scheue ich mich mit
ungewaschener Hand Wein zu spenden; du hingegen geh, von den edelsten Frauen Trojas umringt,
mit Räuchwerk zu Athenes Tempel, lege der Göttin dein köstlichstes Gewand auf die Knie und gelobe
ihr zwölf untadelige Kühe, wenn sie sich unser erbarmt. Ich aber will hingehen, meinen Bruder Paris
in die Schlacht zu berufen. Schlänge ihn doch die Erde lebendig hinab, denn er ist zu unserem
Verderben geboren!«
Die Mutter tat, wie der Sohn sie angewiesen. Sie stieg in die duftende Kammer hinunter, wo die
schönsten Seidengewande verwahrt lagen, die Paris selbst aus Sidon mitgebracht hatte, als er auf
Umwegen mit Helena nach der Heimat schiffte. Eines davon, das größte, schönste, mit den
herrlichsten Bildern durchwirkte, das zuunterst von allen lag, suchte sie hervor und wandelte nun,
von der Schar der edelsten Weiber begleitet, nach der Burg, zu Athenes Tempel. Hier öffnete ihnen
Antenors Gattin Theano, die trojanische Priesterin der Pallas, das Haus der Göttin. Die Frauen reihten
sich um das Bild Athenes und huben mit Klagetönen die Hände zu der Göttin empor. Dann nahm
Theano das Gewand aus den Händen der Königin, legte es auf die Knie des Bildes und flehte zu der
Tochter des Zeus: »Pallas Athene, Beschirmerin der Städte, erhabene, machtvolle Göttin, brich du
dem Diomedes den Speer, laß ihn selbst, auf sein Angesicht gestürzt, vor unsern Toren sich wälzen;
erbarme dich der Stadt, der Frauen, der stammelnden Kinder! In dieser Hoffnung weihen wir dir
zwölf untadelige Kühe.«
Aber Pallas Athene verweigerte ihnen im Herzen ihre Bitte. Hektor war inzwischen im СКАЧАТЬ