Ruhelos. William Boyd
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Название: Ruhelos

Автор: William Boyd

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783311700401

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СКАЧАТЬ Kopf schüttelte. Bleib ernst, bleib vernünftig, ermahnte ich mich. Die plötzliche Eröffnung meiner Mutter war in mein Leben hereingeplatzt wie eine Bombe, sodass ich sie anfangs als Märchen abtat und die Wahrheit nur langsam, in kleinen Schüben an mich heranließ. Es war einfach zu viel, um mit einem Mal verkraftet zu werden, und der Vergleich mit der Bombe war ausnahmsweise einmal passend. Ich kam mir vor wie ein Haus, das durch einen Beinahe-Treffer erschüttert wurde: eine dicke Staubwolke, abgeplatzte Kacheln, zerborstene Scheiben. Das Haus stand noch, aber es war angeknackst, aus den Fugen geraten und hatte seine Stabilität verloren. Anfangs hätte ich am liebsten an eine Art Wahngebäude geglaubt, eine beginnende Altersdemenz bei meiner Mutter, aber mir war schnell klar, dass es sich dabei um ein ziemlich kaputtes Wunschdenken meinerseits handelte. Meine andere Gehirnhälfte sagte: Nein, stell dich den Tatsachen. Alles, was du über deine Mutter zu wissen glaubtest, war eine raffiniert gebastelte Legende. Ich fühlte mich plötzlich allein, hilflos, im Dunkeln zurückgelassen. Was macht man in einer solchen Lage?

      Ich kramte alles zusammen, was ich über die Vergangenheit meiner Mutter wusste. Sie war in Bristol geboren, so die Legende, als Tochter eines Holzhändlers, der in den zwanziger Jahren nach Japan gegangen war. Dort wurde sie von einer Hauslehrerin unterrichtet und arbeitete, wieder in England, als Sekretärin bis zum Tod ihrer Eltern kurz vor dem Krieg. Ich erinnerte mich, dass sie von ihrem geliebten Bruder Alisdair erzählt hatte, der 1942 bei Tobruk umgekommen war … Dann die Hochzeit mit meinem Vater, Sean Gilmartin, während des Krieges in Dublin. Ende der Vierziger gingen sie nach England zurück, nach Banbury, Oxfordshire, wo Sean bald eine gut gehende Anwaltspraxis besaß. Die Geburt der Tochter Ruth folgte 1949. So weit alles ziemlich normal und durchschnittlich – nur die Jahre in Japan geben der Sache einen fremdländisch-exotischen Touch. Ich konnte mich sogar an ein altes Foto von Alisdair erinnern, Onkel Alisdair, das eine Weile auf dem Tischchen im Wohnzimmer gestanden hatte. Und an ausgewanderte Cousins und andere Verwandte in Südafrika und Neuseeland, über die gelegentlich geredet wurde. Wir kriegten sie nie zu sehen, manchmal kam eine Weihnachtskarte. Die in alle Welt ausgeschwärmten Gilmartins dagegen versorgten uns mit mehr Verwandtschaft, als ich verkraften konnte (mein Vater hatte zwei Brüder und zwei Schwestern, es gab gut ein Dutzend Cousins und Cousinen). Nicht die geringsten Besonderheiten also, eine Familiengeschichte wie jede andere, nur der Krieg und seine Folgen hatten ihre Einschnitte in den ansonsten völlig unauffälligen Biografien hinterlassen. Sally Gilmartin war undurchsichtig wie dieser Torpfosten, dachte ich. Ich legte die Hand auf den warmen Sandstein, und mir wurde klar, wie wenig wir in Wahrheit über unsere Eltern wissen, wie vage und unbestimmt sie ihre Biografie beschreiben, fast wie Heiligengeschichten – alles nur Legende und Anekdote –, bis wir uns die Mühe machen, tiefer zu graben. Und nun diese neue Geschichte, die alles änderte. Beim Gedanken an all die Enthüllungen, die mir noch bevorstanden, spürte ich ein Würgen im Hals – als wäre das, was ich schon wusste, nicht erschreckend genug. Etwas im Tonfall meiner Mutter sagte mir, dass sie mir alles erzählen wollte, bis ins kleinste, intimste Detail. Vielleicht hatte die Eva Delektorskaja, die ich nie kennengelernt hatte, nun beschlossen, dass ich absolut alles über sie erfahren sollte.

      Inzwischen waren noch andere Mütter gekommen. Ich lehnte mich an den Torpfosten und rieb die Schultern am rauen Sandstein. Eva Delektorskaja, meine Mutter … Was sollte ich davon glauben?

      »Sie haben beide eine Eins«, flüsterte mir Veronica Briggstock ins Ohr und riss mich aus meinen Grübeleien. Ich drehte mich um und gab ihr aus irgendeinem Grund einen Wangenkuss – normalerweise umarmten wir uns nicht mal, weil wir uns fast täglich sahen. Veronica – auf keinen Fall Vron, auf keinen Fall Nic – war Krankenschwester in der John-Radcliffe-Klinik und geschieden von Ian, einem Labortechniker am Chemischen Institut der Uni. Ihre Tochter Avril war Jochens beste Freundin.

      Wir standen beieinander und tauschten die Neuigkeiten des Tages aus. Ich erzählte von Bérangère und ihrem eindrucksvollen Mantel, während wir darauf warteten, dass unsere Kinder aus der Schule kamen. Die Single-Mütter vor der Schule schienen sich unbewusst – oder auch bewusst – zueinander hingezogen zu fühlen: Obwohl sie die verheirateten Mütter und die gelegentlich auftauchenden täppischen Väter mit vollendeter Höflichkeit behandelten, blieben sie offenbar am liebsten unter sich. Sie konnten ihre speziellen Probleme austauschen, ohne lange Erklärungen, und es gab keinen Grund, unser Single-Dasein zu verleugnen – wir hatten alle unsere Geschichten zu erzählen.

      Wie um das zu illustrieren, zog Veronica heftig über Ian her, der sich, seit er eine neue Freundin hatte, immer öfter vor den vereinbarten Wochenenden mit Avril drücken wollte. Als die ersten Kinder herauskamen, unterbrach sie sich, und mich befiel sofort die irrationale Angst, die ich immer bekam, wenn ich unter den vertrauten Gesichtern nach Jochen suchte. Irgendeine atavistische Mutterangst, vermutlich – das Höhlenweibchen hält Ausschau nach seiner Brut. Dann sah ich ihn – sein ernstes, spitzes Gesicht, seine Augen, die nach mir suchten –, und die Angst war so schnell weg, wie sie gekommen war. Ich überlegte, was ich zum Abendessen machen sollte und welche Sendung wir sehen könnten. Alles war wieder im Lot.

      Zu viert trotteten wir die Banbury Street hinauf nach Hause. Es war später Nachmittag, und die Hitze drückte uns körperlich nieder, als hätte sie um diese Zeit eine besondere Schwerkraft. Veronica meinte, seit ihrem Tunesienurlaub sei ihr nicht mehr so heiß gewesen. Vor uns liefen Avril und Jochen, Hand in Hand, in ein Gespräch vertieft.

      »Was reden die beiden so viel?«, fragte Veronica. »Die haben doch noch gar nichts erlebt.«

      »Als hätten sie die Sprache eben erst entdeckt«, sagte ich. »Du weißt schon: Wenn ein Kind erst mal Seilspringen gelernt hat, hört es überhaupt nicht mehr auf zu springen.«

      »Ja, also reden können sie wirklich …« Sie lächelte. »Hätte ich doch einen kleinen Jungen! Einen großen, starken Mann, der sich um mich kümmert.«

      »Wollen wir tauschen?«, sagte ich unüberlegt, aus irgendeinem dummen Grund, und fühlte mich plötzlich schuldig, als hätte ich Jochen irgendwie verraten. Er hätte das nicht witzig gefunden und mich angeschaut mit seinem strengen, finsteren, gekränkten Blick.

      Wir hatten unsere Straßenecke erreicht. Ich bog links in die Moreton Road, zu unserem Zahnarzt, Veronica und Avril mussten weiter bis nach Summertown, wo sie über dem italienischen Restaurant La dolce vita wohnten – ihr gefiel diese tägliche Ironie, meinte sie, das ewige leere Versprechen. Als wir noch dastanden und vage Pläne für einen Bootsausflug am Wochenende schmiedeten, brachte ich plötzlich das Gespräch auf meine Mutter Sally/Eva. Wenigstens mit einem Menschen musste ich darüber reden, bevor ich meine Mutter wiedersah, dachte ich mir, vielleicht half mir das, die neuen Tatsachen leichter zu verkraften – und meiner Mutter gegenüberzutreten. Es würde kein Geheimnis zwischen Mutter und Tochter bleiben, wenn auch Veronica Bescheid wusste – ich brauchte eine außerfamiliäre Stütze, um nicht den Halt zu verlieren.

      »Mein Gott«, sagte Veronica. »Eine Russin?«

      »Ihr richtiger Name ist Eva Delektorskaja, sagt sie.«

      »Und geht es ihr gut? Oder vergisst sie Namen, Daten, Sachen?«

      »Nein, ihr Verstand ist messerscharf.«

      »Geht sie oft weg und kommt zurück, weil sie nicht mehr weiß, wohin sie wollte?«

      »Nein«, sagte ich, »ich glaube, man muss davon ausgehen, dass alles in Ordnung mit ihr ist«, und erzählte weiter. »Dann macht sie noch etwas, es ist fast eine Art Manie. Sie glaubt, dass sie beobachtet wird. Vielleicht auch eine Art Paranoia … Sie ist misstrauisch gegen Sachen, gegen Menschen. Ach, und dann hat sie einen Rollstuhl – angeblich, weil sie sich den Rücken verletzt hat. Aber das stimmt nicht, sie ist fit wie ein Turnschuh. Sie denkt, dass irgendwas im Gange ist, irgendwelche dunklen Machenschaften, die sich gegen sie richten, und deshalb hat sie beschlossen, mir alles zu sagen, die ganze Wahrheit.«

      »War sie beim Arzt?«

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