Название: Ruhelos
Автор: William Boyd
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783311700401
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Veronica musste lächeln, doch dann zeigte sie Betroffenheit. »Aber abgesehen davon scheint sie völlig normal?«
»Definier mir doch ›normal‹«, erwiderte ich.
Wir trennten uns, und ich lief mit Jochen durch die Moreton Road. Mr Scott, der Zahnarzt, der gerade in seinen neuen Triumph Dolomite stieg, stieg wieder aus und machte eine Show daraus, Jochen Pfefferminz anzubieten – das machte er immer, wenn er Jochen sah, und er war immer mit allen möglichen Sorten und Arten von Pfefferminz ausgerüstet. Als er rückwärts rausgefahren war, gingen wir am Haus vorbei nach hinten zu unserem »Stufengang«, wie Jochen die Eisentreppe nannte, die uns einen eigenen Zugang zu unserer Wohnung im ersten Stock ermöglichte. Der Nachteil war nur, dass alle durch die Küche mussten, aber das war besser, als durch die Praxis mit ihren penetranten Gerüchen zu gehen – Mundwasser, Zahnpasta und Teppichreiniger.
Wir aßen Käsetoast und Baked Beans zum Abendbrot und sahen einen Film über ein kleines, rundes orangerotes U-Boot, das den Meeresboden erforschte. Ich brachte Jochen ins Bett, ging ins Arbeitszimmer und suchte den Hefter mit meiner halbfertigen Doktorarbeit: »Revolution in Deutschland, 1918–1923«. Ich schlug das letzte Kapitel auf – »Der Fünffrontenkrieg Gustavs von Kahr« –, versuchte mich zu konzentrieren und überflog ein paar Absätze. Seit Monaten hatte ich nichts mehr dafür getan, und es war, als würde ich einen fremden Text lesen. Zum Glück hatte ich den faulsten Doktorvater von ganz Oxford – ein ganzes Semester konnte ohne einen einzigen Termin vergehen –, und ich unterrichtete Englisch als Fremdsprache, kümmerte mich um meinen Sohn, besuchte meine Mutter und tat sonst nichts, wie es schien. Ich war in der Lehrerfalle gefangen, ein allzu gängiges Schicksal für so manchen Oxford-Absolventen. Ich verdiente sieben Pfund steuerfrei pro Stunde, und wenn ich wollte, konnte ich acht Stunden am Tag unterrichten, zweiundfünfzig Wochen im Jahr, und selbst wenn ich die Zeit abzog, die ich mit Jochen verbrachte, würde ich in diesem Jahr über achttausend Pfund netto verdienen. Die letzte Stelle, um die ich mich vergeblich beworben hatte, eine Geschichtsdozentur an der University of East Anglia, bot (brutto) nur annähernd die Hälfte von dem, was ich mit dem Unterrichten für Oxford English Plus verdiente. Eigentlich konnte ich mich über meinen Reichtum freuen: keine Mietschulden, ein ziemlich neuer Wagen, Schulgebühren bezahlt, Kreditkarte im grünen Bereich, ein bisschen Geld auf der Bank – aber stattdessen überfielen mich plötzlich das Selbstmitleid und die Wut. Wut auf Karl-Heinz, Wut, weil ich nach Oxford zurückmusste, Wut, weil ich ausländischen Studenten für schnelles Geld Englisch beibringen musste, Wut (und entsprechende Schuldgefühle), weil mein kleiner Sohn mir meine Freiheiten beschnitt, Wut auf meine Mutter, die plötzlich mit dieser abenteuerlichen Geschichte über ihre Vergangenheit herausrückte … So war das alles nicht geplant gewesen, das war nicht das Leben, das ich mir ausgesucht hatte. Ich war siebenundzwanzig Jahre alt. Was war passiert?
Ich rief meine Mutter an. Eine merkwürdig tiefe Stimme meldete sich.
»Ja.«
»Mummy? Sal? – Ich bin’s.«
»Alles in Ordnung?«
»Ja.«
»Dann ruf mich gleich zurück.«
Ich tat es. Das Telefon klingelte viermal, bevor sie abnahm.
»Du kannst nächsten Samstag kommen«, sagte sie, »und mir ist es recht, wenn du Jochen hierlässt. Er kann hier übernachten, wenn du möchtest. Tut mir leid wegen letztem Wochenende.«
»Was ist das für ein Klicken?«
»Das bin ich. Ich klopfe mit dem Bleistift an den Hörer.«
»Und was soll das?«
»Ein Trick. Um Leute zu irritieren. Verzeih, ich höre schon auf.« Sie zögerte kurz. »Hast du gelesen, was ich dir gegeben habe?«
»Ja. Ich hätte schon früher angerufen, aber ich musste es erst mal verdauen. Ein kleiner Schock, wie du dir denken kannst.«
»Ja, natürlich.« Sie schwieg einen Moment. »Aber ich wollte, dass du’s erfährst. Es war der richtige Zeitpunkt.«
»Ist das alles wahr?«
»Natürlich. Jedes Wort.«
»Das heißt also, dass ich Halbrussin bin.«
»Ich fürchte, ja, Liebling. Aber eigentlich nur Viertelrussin. Meine Mutter, deine Großmutter, war Engländerin, erinnerst du dich?«
»Wir müssen darüber reden.«
»Da kommt noch mehr auf dich zu. Viel mehr. Du wirst alles verstehen, wenn du den Rest erfährst.«
Dann wechselte sie das Thema und fragte nach Jochen, wie sein Tag gelaufen war, ob er etwas Ulkiges gesagt hatte, und während ich von ihm erzählte, braute sich etwas in meinem Bauch zusammen, als müsste ich dringend aufs Klo – es war die plötzliche Angst vor dem, was mir bevorstand, und die kleine, nagende Furcht, dass ich es nicht verkraften würde. Es komme noch mehr auf mich zu, hatte sie gesagt, viel mehr – was war dieses »Alles«, das ich am Ende verstehen würde? Wir redeten noch Belangloses, verabredeten uns für den nächsten Samstag, und ich legte auf. Ich drehte mir einen Joint, rauchte ihn sorgfältig auf, ging ins Bett und schlief acht Stunden lang, ohne zu träumen.
Als ich am nächsten Morgen von Grindle’s zurückkam, saß Hamid auf der obersten Stufe unserer Treppe. Er trug eine kurze schwarze Lederjacke, die neu war und nicht zu ihm passte, wie ich fand, er wirkte in ihr kastenförmig und bullig. Hamid Kazemi, Anfang dreißig, Bartträger, war ein stämmiger iranischer Ingenieur mit den breiten Schultern eines Gewichthebers. Und er war mein dienstältester Schüler.
Er hielt mir die Küchentür auf, wies mich mit seiner gewohnt höflich-akkuraten Geste hinein, machte mir ein Kompliment wegen meines guten Aussehens (mit denselben Worten wie vierundzwanzig Stunden zuvor) und folgte mir durch die Wohnung ins Arbeitszimmer.
»Sie haben nichts zu meiner Jacke gesagt«, sagte er auf seine direkte Art. »Gefällt sie Ihnen nicht?«
»Sie gefällt mir ganz gut«, erwiderte ich, »aber mit dieser Sonnenbrille und den schwarzen Jeans sehen Sie aus wie ein SAVAK-Agent.«
Er versuchte zu verbergen, dass er den Vergleich alles andere als lustig fand – und ich sah ein, dass der Scherz für einen Iraner vielleicht ein bisschen geschmacklos war, also entschuldigte ich mich. Hamid hasste den Schah von Persien, und das mit ganz besonderer Leidenschaft, wie mir jetzt einfiel. Er zog die Jacke aus und hängte sie sorgfältig über die Stuhllehne. Ich roch das neue Leder und dachte an Geschirrkammern und Sattelpolitur – ein Geruch, der mich an meine fernen Mädchenjahre erinnerte.
»Ich habe den Bescheid über meine Versetzung erhalten«, sagte er. »Ich werde nach Indonesien gehen.«
»Ich gehe nach Indonesien. Ist das gut? Freuen Sie sich?«
»Ich gehe … Ich wollte Lateinamerika, sogar Afrika …« Er zuckte die Schultern.
»Für mich klingt Indonesien ganz aufregend«, sagte ich und griff nach den Ambersons.
Hamid arbeitete bei Dusendorf, einer internationalen Ölgesellschaft. Die Hälfte aller Schüler bei Oxford English Plus kamen von Dusendorf und lernten Englisch, die Sprache der Erdölindustrie, damit sie an allen Ölquellen der Welt eingesetzt werden konnten. Ich unterrichtete Hamid nun schon seit drei Monaten. СКАЧАТЬ