Название: Ruhelos
Автор: William Boyd
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783311700401
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»Danke, nein. Ich bin sehr zufrieden mit meiner jetzigen Arbeit.«
Plötzlich wollte sie nur noch, dass Kolja hereinkam, was ja ganz unmöglich war – Kolja mit seinem ironischen Lächeln und seinem müden Charme –, und ihr sagte, was sie tun sollte, was sie dem Mann mit dem beharrlichen Blick und den beharrlichen Forderungen sagen sollte. Was soll ich machen, Kolja? Sie hörte die Frage in ihrem Kopf. Sag mir, was ich tun soll, und ich tu’s.
Romer stand auf. »Ich habe mit Ihrem Vater gesprochen und schlage vor, dass Sie es auch tun.« Er ging zur Tür, tippte mit zwei Fingern an seine Stirn, als hätte er etwas vergessen. »Ich sehe Sie morgen – oder übermorgen. Denken Sie ernsthaft über meinen Vorschlag nach, Eva, und was das für Sie und Ihre Familie bedeutet.« Dann schien seine Stimmung abrupt zu wechseln, als hätte ihn eine plötzliche Erregung gepackt, als würde er seine Maske für einen Moment fallen lassen. »Zum Teufel noch mal, Eva«, sagte er. »Ihr Bruder ist von diesen Gangstern ermordet worden, diesem widerwärtigen Pack – Sie kriegen die Chance, ihn zu rächen, sie büßen zu lassen.«
»Auf Wiedersehen, Mr Romer, es war reizend, Sie zu sehen.«
Eva schaute aus dem Zugfenster, draußen zog die schottische Landschaft vorüber. Es war Sommer, doch ihr schien, als wäre die Landschaft unter dem niedrigen weißen Himmel von den Spuren harter Winter gezeichnet – die kleinen, zähen, von einem beständigen Wind gekrümmten und deformierten Bäume, das büschelige Gras, die sanften grünen Hügel mit ihrem dunklen Schorf aus Heidekraut. Es mag ja Sommer sein, schien das Land zu sagen, aber ich bleibe lieber auf der Hut. Sie dachte an andere Landschaften, die sie aus dem Zug gesehen hatte, und tatsächlich war ihr manchmal so, als wäre ihr Leben aus vielen Zugfahrten zusammengesetzt, aus einer Abfolge fremder Gegenden, die an ihrem Fenster vorübergehuscht waren – von Moskau nach Wladiwostok, von Wladiwostok nach China … Luxuriöse wagons lits, Truppenzüge, Güterzüge, Bummelzüge auf Nebenstrecken, Tage des Wartens auf eine Ersatzlok. Mal in überfüllten Zügen, fast erstickend im Mief der zusammengepressten Leiber, dann wieder in der melancholischen Einsamkeit leerer Abteile, Nacht für Nacht das eintönige Rattern der Räder im Ohr; mal mit leichtem Gepäck, nur mit einem Köfferchen, dann wieder befrachtet mit der gesamten Habe, wie ein Flüchtling ohne Ziel. All diese Reisen: von Hamburg nach Berlin, von Berlin nach Paris und jetzt von Paris nach Schottland. Noch immer mit unbekanntem Ziel, dachte sie und sehnte sich ein wenig nach der alten Erregung, der alten Romantik.
Eva schaute auf die Uhr – noch zehn Minuten bis Edinburgh. Ein älterer Geschäftsmann saß im Abteil und nickte ständig über seinem Roman ein, der Kopf mit den hässlich erschlafften Zügen fiel von einer Seite zur anderen. Eva nahm ihren neuen Pass aus der Handtasche und betrachtete ihn vielleicht zum hundertsten Mal. Er war 1935 ausgestellt worden und trug die Einreisestempel mehrerer europäischer Länder: Belgiens, Portugals, der Schweiz und interessanterweise auch der USA. Alle diese Länder hatte sie offenbar bereist. Das Foto war unscharf und überbelichtet: Es ähnelte ihr – einer strengeren, trotzigeren Eva (wo hatten sie das aufgetrieben?) –, aber selbst sie konnte nicht entscheiden, ob es wirklich echt war. Ihr Name, ihr neuer Name, lautete Eve Dalton. Aus Eva Delektorskaja war Eve Dalton geworden. Warum nicht Eva? Sie vermutete, dass »Eve« englischer klang, aber Romer hatte ihr ohnehin keine Wahl gelassen.
An dem Abend, als sich Romer so abrupt verabschiedet hatte, war sie in den Salon gegangen, um mit ihrem Vater zu reden. Ein Job für die britische Regierung, sagte sie, fünfhundert Pfund jährlich, ein britischer Pass. Er tat überrascht, aber es war klar, dass Romer ihn bis zu einem gewissen Grad eingeweiht hatte.
»Du wärst englische Staatsbürgerin, mit Pass«, sagte ihr Vater mit einem ungläubigen Gesichtsausdruck, der schon fast tölpelhaft wirkte – als wäre es undenkbar, dass ein so unbedeutender Mensch wie er eine Tochter mit britischem Pass haben könnte. »Weißt du, was ich dafür geben würde, englischer Staatsbürger zu sein?«, sagte er und machte mit der rechten Hand eine Sägebewegung am linken Arm.
»Ich traue ihm nicht«, sagte Eva. »Und warum sollte er das für mich tun?«
»Nicht für dich, für Kolja. Kolja hat für ihn gearbeitet. Kolja ist dafür gestorben.«
Sie goss sich ein Gläschen Portwein ein, trank es aus und behielt den süßen Schluck ein paar Sekunden im Mund.
»Für die britische Regierung arbeiten«, sagte sie, »du weißt, was das bedeutet.«
Er ging auf sie zu und nahm ihre Hände. »Es gibt tausend Möglichkeiten, für die britische Regierung zu arbeiten.«
»Ich werde ablehnen. Ich fühle mich wohl in Paris – und in meinem Beruf.«
Wieder reagierte ihr Vater mit einem übertriebenen, fast parodistischen Gesichtsausdruck: Diesmal war es Verblüffung, ein so komplettes Unverständnis, dass ihm schwindlig wurde. Er setzte sich hin, wie um es unter Beweis zu stellen.
»Eva«, sagte er mit ernster, getragener Stimme. »Überleg doch mal: Du musst es tun. Aber nicht wegen des Geldes oder wegen des Passes oder damit du in England leben kannst. Es ist doch ganz einfach: Du musst es für Kolja tun – für deinen Bruder.« Er zeigte auf Koljas Foto. »Kolja ist tot«, sagte er, und es klang einfältig, fast idiotisch – als hätte er die Tatsache seines Todes eben erst zur Kenntnis genommen. »Ermordet. Was bleibt dir da anderes übrig?«
»Gut, ich werde darüber nachdenken«, erwiderte sie kühl, um sich nicht von seinen Gefühlen überrumpeln zu lassen, und ging hinaus. Aber ungeachtet dessen, was die rationale Seite ihres Verstandes sagte – alles abwägen, nichts übereilen, es ist dein Leben, um das es hier geht –, wusste sie, dass ihr Vater schon alles Wesentliche gesagt hatte. Es ging weder um Geld noch um den Pass, noch um ihre Sicherheit. Kolja war tot. Kolja war ermordet worden. Sie musste es für Kolja tun. So einfach war das.
Sie sah Romer zwei Tage später auf der anderen Straßenseite stehen, als sie zum Essen ging, unter der Markise der Épicerie wie an jenem ersten Tag. Diesmal wartete er, dass sie auf ihn zuging, und als sie die Straße überquerte, spürte sie einen starken Widerstand – als wäre sie abergläubisch und soeben mit einem bösen Omen konfrontiert worden. Ein absurder Gedanke kam in ihr hoch: Fühlen sich Menschen so, wenn sie in eine Ehe einwilligen?
Sie tauschten einen Händedruck, und Romer führte sie in das Café. Nachdem er bestellt hatte, überreichte ihr Romer einen gelbbraunen Umschlag. Er enthielt einen Pass, fünfzig Pfund in bar und eine Fahrkarte von Paris, Gare du Nord, nach Edinburgh, Waverley Station.
»Und wenn ich Nein sage?«
»Dann geben Sie mir alles zurück. Niemand wird Sie zwingen.«
»Aber Sie hatten den Pass schon fertig.«
Romer zeigte beim Lächeln die Zähne. Vielleicht ist das Lächeln diesmal echt, dachte sie.
»Sie ahnen ja nicht, wie leicht es ist, einen Pass zu fälschen. Nein, ich dachte mir …« Er zog die Stirn kraus. »Ich kenne Sie nicht so, wie ich Kolja kannte, aber ich dachte mir, seinetwegen und weil Sie mich an ihn erinnern, gäbe es eine Chance, dass Sie bei uns mitmachen.«
Eva musste fast lachen beim Gedanken an das Gespräch, diese Mischung aus Aufrichtigkeit und abgrundtiefer Verlogenheit, und beugte sich zum Fenster, als der Zug unter Dampf in Edinburgh einfuhr. Sie verrenkte den Hals, um die Burg auf dem Felsen zu sehen – fast schwarz, wie aus Kohle auf einen Kohlefelsen gebaut, ragte sie über ihr auf, während der Zug langsamer wurde und in den Bahnhof einfuhr. Jetzt erschienen Streifen von Blau zwischen den dahinjagenden Wolken, es wurde heiterer, der Himmel war nicht mehr weiß und neutral – vielleicht wirkten deshalb die Burg und der Felsen so schwarz.
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