Sterben lernen: Christoph Schlingensiefs autobiotheatrale Selbstmodellierung im Angesicht des Todes. Johanna Zorn
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СКАЧАТЬ des Selbst als Lebenserzählung, zu untermauern. Schien es den meisten Kritikern bereits im Fall von Eine Kirche der Angst unmöglich, aus gewohnt distanzierter Position zu rezensieren, so stellte sich in Der Zwischenstand der Dinge schließlich „eine kaum erträgliche Intimität ein“1. Aus der Sicht von Pilz fühlte man sich dabei, „als blättere man mit Schlingensief in seiner Krankenakte“2. Aber diese Krankheit, so der Rezensent erneut, lasse „sich nicht kritisieren, nur heilen oder annehmen“3. Der Theaterabend, dem die wesentlichen filmischen und musikalischen Motive sowie große Teile der aus dem Tagebuch stammenden Texte des Fluxus-Oratoriums zugrunde lagen, brachte für Reinhard Wengierek von der Welt eine „immer wieder hellsichtig die Todesangst umkreisende Schnipsel-Paraphrase aus Video, Musik, Patiententagebuch, Memoiren und Kabarettistischem“4 an die Öffentlichkeit. Laut Rüdiger Schaper geriet die Inszenierung vor allem aufgrund des nahezu distanzlosen Rahmens zur „Tragödie en miniature“5. Das persönliche Drama Schlingensiefs rückte mit Der Zwischenstand der Dinge offensichtlich derart nahe an die Rezensenten heran, dass die Demarkationslinie zwischen Selbstentblößung und -maskierung nicht mehr auszumachen war. Die von den Journalisten thematisierte Unmittelbarkeit war wesentlich dem Wegfall des kunstreligiös-rituellen Rahmens geschuldet, der das Schicksal Schlingensiefs im Fluxus-Oratorium noch durch die großformatige ästhetische Dekonstruktion christlicher Erlösungsdogmatik auf Distanz gehalten hatte.

      Da die ästhetische Konstruktion der Inszenierung hinter der Einforderung einer emphatischen Teilhabe des Publikums beinahe zum Verschwinden gebracht wurde, kam Schlingensief als Regisseur seiner Lebensgeschichte dem hermeneutisch-autobiographischen Desiderat nach Unmittelbarkeit entschie­den nahe. Dass die Nacktheit des Protagonisten nunmehr weniger als Effekt der Inszenierungsstrategie rezipiert wurde, sondern als Aufforderung zu direktem Mitfühlen, zeigt unter anderem die Auffassung Ulrich Seidlers. Die Art und Weise der Selbstpräsentation glich in seinen Augen eher einer Gesprächstherapie und machte den Zuschauer schier darüber vergessen, dass er im Theater saß:

      Das war in dem Moment kein Theater, was sollte man also beklatschen? Schlingensiefs Mut? Seine Angst? Seine Ärzte? Seine Medikamente? Die eigene Gesundheit? Schlingensief hat seinen privaten Lungenkrebs in die gute alte Erfahrungsmaschine Theater eingespeist und sie damit gefährlich ins Stottern gebracht.6

      Ähnlich Seidler fasste Rüdiger Schaper die Arbeit als „beispiellose Entäußerung“7 Schlingensiefs auf. Der Regisseur fertigte aus der Sicht des Rezensenten eine Inszenierung, die „die Traurigkeit von Kammermusik“8 atmete. Mit diesem Urteil war implizit die formale Diskrepanz zwischen den Produktionen Eine Kirche der Angst und Der Zwischenstand der Dinge angesprochen. Zwar waren die Inszenierungen thematisch eng miteinander verknüpft, unter dem Aspekt ihrer jeweiligen Atmosphäre9 allerdings vollkommen unterschiedlich geraten. Der Umstand, dass die Bausteine des großformatigen Oratoriums und des um den hyperbolischen Rahmen der liturgischen Messfeier verkürzten distanzlosen Abends im Studio des Maxim Gorki Theaters grosso modo dieselben waren, legte die Argumentation mit musikalischen Gegensatztopoi in der Tat nahe. Während Schlingensiefs Aneignung der erzählend-dramatischen Gattung des Oratoriums mit der musikalisch-exaltierten Apostrophe an das Göttliche spielte, erschien der kammermusikalische und -theatrale Abend Der Zwischenstand der Dinge als Rückzug in die Sphäre der Intimität, der dem Zuschauer gewissermaßen die nackte Antifolie zur kunstreligiösen Überformung vor Augen führte und ihn begreifen ließ, „dass das Leben ohne Rituale und Kunst eine Hölle ist“10.

      Reinhard Wengierek deutete die Inszenierung als Versuch Schlingensiefs, sich von außen selbst zu betrachten, um dabei „mit heiligem Ernst und teuflischem Witz auf sein Los“11 hinzuweisen. Dirk Pilz wiederum sah „ein Spiel über das Spielen mit dem eigenen Leben und Sterben“12 und erkannte damit ebenso eine metareflexive Dimension. Die Rezensenten malten auf diese Weise ein Bild aus, in dem der Regisseur als Beobachter seinem gezeigten Ich wie in einem Selbstporträt vis-à-vis steht. Schlingensief selbst äußerte im Vorwort seines Krebstagebuchs den zur Einschätzung der Kritiker passenden Anspruch, aus der Distanz einen ganzheitlichen Blick auf sich selbst zu werfen, „[d]ie Erkrankung vor sich zu stellen, sie und sich selbst von außen zu betrachten“13.

      Pilz erlebte dieses „Selbstdurchleuchtungstheater“14 gar als Einforderung einer konkreten zwischenmenschlichen Reaktion und räsonierte nachdenklich darüber, ob das Echte der Krankheit die Inszenierung nobilitiere oder doch eher ungreifbar mache. Auch Peter Göpfert stimmte in den Chor der Kritiklosen mit ein, indem er die spürbare „selbsttherapeutische Absicht dieser Inszenierung“15 dafür verantwortlich machte, dass sie sich herkömmlichen Kriterien des Rezensierens gänzlich entziehe. Die sich im Rahmen der Besprechungen der Duisburger Inszenierung bereits deutlich abzeichnende Tendenz, Schlingensiefs theatralen Umgang mit seiner Todesangst nicht mehr mit normativen Begriffen zu fassen, sondern dem gesundheitlichen Zustand des Autors respekt- und pietätvoll zu begegnen, hatte sich in der Betrachtung von Der Zwischenstand der Dinge erheblich zugespitzt. Die Rezensenten operierten dabei zwar nach wie vor innerhalb des semantischen Feldes der Selbstdarstellung, des Sich-Zeigens und des theatralen Phantasmas von Unmittelbarkeit. Anders als im Fall des Fluxus-Oratoriums konnten sie sich allerdings von der inszenierten Intimität nicht mehr über die äußere Form der Kunst-Messe distanzieren, sondern fühlten sich in das Innere des Künstlers regelrecht hineingezogen.

      1.3 Die ReadyMadeOper Mea Culpa

      Die Topologie der bekenntnishaften Selbstdarstellung und die mit der szenischen Confessio verbundene Suggestion von Unmittelbarkeit bildeten auch noch den analytischen Rahmen für die im März des Jahres 2009 am Wiener Burgtheater uraufgeführte ReadyMadeOper Mea Culpa. Nach Der Zwischenstand der Dinge fand der Regisseur dabei wieder zur großen synkretistischen Form zurück. Schlingensief tauschte das liturgische Setting durch den intermedialen Referenzrahmen des hinter ihm liegenden Œuvres aus und betrachtete sich selbst nunmehr zur Gänze durch die Brille seiner künstlerischen Vergangenheit hindurch. Darüber hinaus war die Perspektive des bekennenden Ichs bereits auf die Zukunft hin gerichtet. Im Rahmen von Mea Culpa stellte Schlingensief seine Vision eines afrikanischen Operndorfs vor, verstanden als Zusammenführung von Wagners Bayreuth-Utopie mit dem erweiterten Kunstbegriff von Joseph Beuys.

      Das dem Abend programmatisch zugrunde liegende katholische Schuldbekenntnis zeigte zum einen die religiöse Verbindungslinie vom Duisburger Fluxus-Oratorium zur Wiener ReadyMadeOper auf und verwies zum anderen auf den Versuch Schlingensiefs, einem erodierten integralen Subjekt die behauptete Souveränität eines autonomen Ichs entgegenzuhalten. Im Allgemeinen Schuldbekenntnis, nach christlicher Vorstellung die Antwort auf die Schuldübernahme Jesu Christi, der durch seinen Tod „die Schulden der Welt hinweggenommen hat“, gesteht der Mensch, „Gutes unterlassen und Böses getan zu haben“. Im klimatischen Ruf „mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa“ liegt die Fabel von Schlingensiefs Inszenierung eingeschlossen. Der Regisseur hatte sich bereits in seinem Tagebuch auf eine krankheitsgenetische Spurensuche begeben, die ihn auf seine eigene Schuld zurückgeführt hatte. Den Grund für seine Krebserkrankung glaubte er schließlich in seiner intensiven Beschäftigung mit Wagners Parsifal im Zuge der Bayreuther Festspiele im Jahr 2004 ermittelt zu haben, wo er sich von Wagners Spiel mit der Todessehnsucht „auf den Trip schicken habe lassen“1. Getreu dem im Parsifal wirksamen Prinzip, „die Wunde schließt der Speer nur, der sie schlug“2, sollte die erneute Auseinandersetzung mit Wagners „Todesmusik“3 in Mea Culpa zu einer Bejahung des Lebens führen. „‚Ich will noch nicht‘ ist die Quintessenz des Abends“4, so dessen Dramaturg Carl Hegemann. Die titelgebende Bündelung der Schuld im Ich, die als Zeichen einer egozentrierten Haltung einen selbsttherapeutischen Zweck erfüllte, war das Resultat einer intensiven Forschung nach der eigenen Vergangenheit im Medium des Theaters. Dafür implantierte Schlingensief die Diegesis des Parsifal in eine höchst eigenwillige metadiegetische Rahmenhandlung: In einer ayurvedischen Heilanstalt, die ihrerseits assoziativ an das hermetisch abgeschlossene Sanatorium aus Thomas Manns Der Zauberberg (1924) gemahnt, arbeiten die Patienten an einer Parsifal-Inszenierung. Die in Wagners Bühnenweihfestspiel thematisierte Wunde soll den Patienten den Weg zur Heilung weisen.

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