Sterben lernen: Christoph Schlingensiefs autobiotheatrale Selbstmodellierung im Angesicht des Todes. Johanna Zorn
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СКАЧАТЬ seinen autobiotheatralen Inszenierungen nun versetzte er sein in der Vergangenheit gelebtes und in der Gegenwart erlebtes Ich in dieses Spannungsfeld von Selbstdifferenz und synthetisierender Totalität, das Reibungen zwischen Religion und Kunst sowie Avantgarde und Kitsch zuließ. Schlingensiefs in diesem Sinne paradoxal gefasste existentielle Spurensuche in Eine Kirche der Angst (inklusive des Satellitenwerks Der Zwischenstand der Dinge) und Mea Culpa, mit der sich seine Rückschau auf sein Leben und seine Kunst mit seinen Reflexionen über den bevorstehenden Tod vermischten, führte auch das deutschsprachige Feuilleton aufgrund des Zusammenfalls von Faktualität und Fiktionalität offensichtlich an die Grenzen seiner Sprach- und Beurteilungsmöglichkeiten. Der Regisseur, der sein Leben zum Sujet seiner Inszenierungen machte, spaltete die Kritiker grosso modo in zwei Lager: aus der Sicht der Einen provozierten die Arbeiten Anteilnahme und sogar rituelles Gemeinschaftsgefühl, aus der Sicht der Anderen geriet die Selbstdarstellung zu einer hypertrophen Selbstentäußerung typisch Schlingensiefschen Zuschnitts. So liegt einer Vielzahl an Rezensionen das Lavieren zwischen ebenjenen Gegensätzen zugrunde, die Schlingensief mit seinen Inszenierungen zum Stilprinzip erhob. Der widersprüchlichen Verquickung von Authentizitätseffekten und synkretistischer Ich-Übermalung, von Entblößung und Maskierung, von egomanischer Selbstinszenierung und der Konstruktion eines rituellen Wir-Gefühls sowie, nicht zuletzt, von Religion und Kunst kamen die Rezensenten verständlicherweise nur durch eine rhetorische Wiederholung Schlingensiefscher Paradoxien bei.

      In der feuilletonistischen Betrachtung der „Krebs-Trilogie“ schob sich aufgrund der Zurschaustellung der Krankheit insgesamt allerdings tendenziell die Haltung der Pietät vor diejenige einer schonungslos kritischen Hinterfragung der Projekte. Die von Georg Seeßlen bereits in den 1990er Jahren angesprochene „mögliche Unübersetzbarkeit des Schlingensiefschen Arrangements in die klassische Form des Textes“26 hatte sich im Moment des bedrohlichen existentiellen Zustands des Regisseurs und Protagonisten bewahrheitet. Der Art und Weise, wie Schlingensief sein persönliches Leid und seine Angst vor dem Tod auf die Theaterbühne brachte, schien mit konventionellen normativen Bewertungskriterien jedenfalls nicht mehr beizukommen zu sein.

      Über die Motive der Egozentrierung, Ritualisierung und Entblößung des Ichs und die Topoi des Bekenntnisses und der Beichte stellen die Rezensionen zu Eine Kirche der Angst, Der Zwischenstand der Dinge und Mea Culpa einen engen Konnex zu Ausdrucksgesten der Autobiographie her. Der den Arbeiten in den Augen vieler Rezensenten zugrunde liegende autobiographische Inszenierungsgestus, der im theaterwissenschaftlichen Jargon gemeinhin mit dem Begriff der Selbstinszenierung enggeführt wird, zeigt sich, fasst man die Argumente der Journalisten zusammen, im Versuch Schlingensiefs, die Zuschauer in der rückschauenden Betrachtung seines Lebens seiner Person ansichtig werden zu lassen. Das Kernmotiv der Autobiographie seit ihren Anfängen, der Versuch einer Konstruktion von Identität, d.h. der Unteilbarkeit (lat. idem, derselbe) des Ichs, wird in Eine Kirche der Angst und Mea Culpa allerdings gleichermaßen inszeniert und torpediert: So verweist Schlingensief zwar in jedem Moment der Inszenierungen auf sein Selbst; gleichzeitig tut er dies jedoch mit den Mitteln einer bruchstückhaften Kunstsprache, die die Schichten seines Ichs in einem unentwegten Maskenspiel freilegt, um sie im nächsten Moment wieder zu verhüllen. Der Regisseur als Sujet seiner Inszenierungen entzieht sich dabei konsequent der Fixierung auf einen einzigen subjektiven Standpunkt und setzt durch die personale Multiplikation seines Ichs in zahlreiche Bühnenfiguren, durch mediale Verfremdungseffekte sowie den theatral inszenierten fremden Blick auf das eigene Schaffen, ein intrikates Wechselspiel zwischen seinen unterschiedlichen Ich-Positionen in Gang. In zahlreichen Variationen von theatraler und medialer Rede und Gegenrede lässt er diese miteinander kommunizieren, grundiert oder übermalt sie mit eigenem und fremdem künstlerischem Material und wird dadurch zur verkleideten Kunstfigur. Der dem poststrukturalistischen Denken zugrunde liegende Vorgang der Zerlegung, Umcodierung und Neukontextualisierung, den der philosophische Terminus der Dekonstruktion umschreibt, ist für Schlingensiefs montagiertes Gesamtkunstwerk seines Ichs ebenso konstitutiv wie der Wille, seine, wenn auch gebrochene, Identität in einem Zustand der Ekstase nach außen zu transportieren. Aufgrund dieses antinomischen Zusammenfalls von Konstruktion und Dekonstruktion des Ichs stellt die Gesamtheit seiner thanatographischen Inszenierungen zweifelsohne einen intermedialen Hypertext zur hybriden Textsorte der Autobiographie mit ihren im literaturwissenschaftlichen Diskurs problematisierten Techniken der ästhetisierten Selbstdarstellung dar. Schlingensiefs autobiotheatrale Hervorbringungen setzen sich dabei keineswegs nur die Maske der Autobiographie auf, um diese zu parodieren, sondern folgen im Spiel der Selbstinszenierung bewusst den Wandlungen eines mit sich selbst nicht identischen Ichs.

      2 Von der Autobiographie zur Autobiotheatralität

      2.1 Autobiographische Wahrhaftigkeit

      2.1.1 Die hermeneutische Perspektive

      Mit seinem, den Inszenierungen Eine Kirche der Angst und Mea Culpa ausschnittweise zugrunde liegenden Krebstagebuch schreibt Schlingensief zunächst die Tradition des journal intime fort. Die Ende des 18. Jahrhunderts als Zeichen erwachender Innerlichkeit aufkommende diaristische Schreibpraxis stellt der synthetisierenden rückschauenden Betrachtung des Lebens im Genre der Autobiographie komplementär ein punktuelles Sezieren der Jetzt-Zeit des Ichs gegenüber.1 Der Hermeneutiker Georg Misch grenzt das Tagebuch als Analyse, mit der der Schreibende seine Gedanken täglich aufs Neue festhält, von der Autobiographie als Synthese ab, die das räsonierende Ich erst in der Rückschau auf sein Leben leistet. Im Sinne einer analytischen Durchdringung der verschiedenen Etappen des Krankheitsweges sprach Schlingensief seine alltäglichen Erlebnisse während seines Krankenhausaufenthaltes zum Zweck der minutiösen Dokumentation seines Leidensweges auf Diktiergerät und trieb das Gebot der Diaristen, unmittelbares Zeugnis des gegenwärtigen Ich-Zustands zu geben, mit veränderten medialen Mitteln ins Extrem. Im Modus der radikalen Unmittelbarkeit des Sich-Selbst-Sprechen-Hörens, vermittelt durch die atopische Stimme, versicherte Schlingensief sich dabei seiner Selbstpräsenz.2 Diese Beteuerung des Selbst wurde erst nachträglich durch Transkription des Tonbanddokuments unter dem Titel So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein (2008) zu Papier gebracht.

      Im Erkenntnishorizont der poststrukturalistischen Rede von der Dezentrierung des Subjekts können freilich weder das Tagebuch noch die im Deutschen begrifflich erstmals Ende des 18. Jahrhunderts aufkommende Autobiographie als jene faktisch verbürgte Ich-Dokumentation erscheinen, wie es ein im Bereich der populären Selbstbeschreibung geläufiges „ungebrochenes Ich-Bewusstsein“3 nach wie vor suggeriert. Paradigmatisch verdichtet in Titeln wie Ich. Wie es wirklich war (Franz Beckenbauer) oder Nichts als die Wahrheit (Dieter Bohlen) vermitteln die Urheber von Autobiographien, die sich ironischerweise lediglich als Auftraggeber von „anekdotischen oder hagiographischen Trivialprojektionen“4 entpuppen, den Anschein, als würde darin ein unmittelbarer und unverstellter Zugang zur dahinterliegenden Person eröffnet. Als sich seiner selbst vergewissernder Diarist wie als literarischer Autobiograph bediente sich Schlingensief der bekenntnishaften Rhetorik der Wahrhaftigkeit und befindet sich mithin auf einer Linie mit diesen selbstbeschreibenden Zeitgenossen bzw. deren Ghostwritern. Wie der Titel seiner 2012 erschienenen Autobiographie Ich weiß, ich war’s bereits suggeriert, untermauert sein literarisches Bekenntniswerk weitestgehend jenes integrale Ich-Verständnis, das seine Witwe Aino Laberenz im Vorwort mit Nachdruck artikuliert. Christoph Schlingensief schrieb ein Buch, „das sich auf sein Leben richtet. Das sich auch an sein Leben richtet, wie es gewesen ist, wie er gewesen ist.“5

      Die Begriffe Wahrheit und Wahrhaftigkeit, die der Autor Schlingensief in seinem unerschütterlichen Ich-Verständnis hypostasiert („Ich weiß, ich war’s“), verweisen ihrerseits zurück auf das Paradigma der hermeneutischen Autobiographieforschung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. So lautet die schlichte Definition von Autobiographie durch Georg Misch, es handle sich um eine „Beschreibung (graphia) des Lebens (bios) eines Einzelnen durch diesen selbst (auto)“6. In seinem Werk Der autobiographische Pakt (1973) liefert Philip Lejeune noch in den 1970er Jahren eine dazu kongruente Gattungsbestimmung: „Rückblickende Prosaerzählung einer tatsächlichen СКАЧАТЬ