Sterben lernen: Christoph Schlingensiefs autobiotheatrale Selbstmodellierung im Angesicht des Todes. Johanna Zorn
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СКАЧАТЬ zeichnete sich schon mit der ersten thanatographischen Inszenierung Eine Kirche der Angst ein verändertes ästhetisches Profil ab. Wesentlich blieb darin die Schichtung von heterogenen medialen Materialien als kunstphilosophische Sinneinheiten. Das politisch agitatorische Moment jedoch, der Ausbruch aus dem Raum des Theaters und die Rolle des Regisseurs als Störfaktor seiner eigenen Inszenierung sind weitestgehend hinter das emphatische Ich-Bekenntnis des faktualen wie fiktionalen Sujets „Schlingensief“ getreten.

      Mit der für die Inszenierungen grundlegenden wechselseitigen Bedingtheit von Ich-Darstellung und Todesbedenken rekurrierte der Regisseur auf einen traditionsreichen kulturgeschichtlichen Topos, der durch zahlreiche Wandlungen hindurch bis in die zeitgenössische Kunstproduktion hinein wirksam geblieben ist. So bildet das inszenierte vis-à-vis mit dem Tod eines der großen „Rahmenthemen“32 des Selbstbildnisses, dem seit der Renaissance das gestaltende Spiel mit der Identität und mithin der Maskierung des Ichs zu Eigen ist. Von Albrecht Dürers Selbstbildnis mit der Binde (1492) über Arnold Böcklins Selbstbildnis mit fiedelndem Tod (1872) bis hin zu Arnulf Rainers Face Farces (1969–1971) etwa, die der Künstler selbst als „Reproduktionen des mir noch nicht bekannten Ichs“33 bezeichnete, zeigt sich ein enger Konnex zwischen Schmerzensdarstellung und Todesreflexion des künstlerischen Individuums einerseits und dessen Selbstmodellierung andererseits.

      Die im Selbstporträt momenthaft eingefrorene Auseinandersetzung des Ichs mit Schmerz und Tod schlägt im Umfeld der Aktionskunst und Performance Art in den 1960er und 1970er in das masochistische Exerzitium am lebendigen Körper um. Neben den schmerzevokativen Performances, in denen Künstler wie Marina Abramović, Vito Acconci, Chris Burden oder Günter Brus ihre Körper zum form- und bearbeitbaren Material für selbstverletztende Gesten nutzten, existieren seither eine Reihe von Arbeiten, mit denen die Subjekte ihren eigenen Tod einer öffentlichen Verhandlung zugänglich machten. So stellte etwa Bob Flanagan seine erblich bedingte Erkrankung an Mukoviszidose und somit seine unmittelbare Nähe zum Tod ins Zentrum seines künstlerischen Schaffens. Das an Aids erkrankte Mitglied der Wooster Group Ron Vawter schlüpfte in seinem Solo Roy Cohn/Jack Smith (1993) in die Doppelrolle des titelgebenden US-Politikers Cohn einerseits und des Camp-Künstlers Smith andererseits, die beide an Aids starben, und thematisierte so die persönliche Bedrohung durch den Tod. Der an Leberkrebs leidende ungarische Künstler Péter Halász wiederum ersann ein Szenario, um seiner eigenen Trauerfeier noch zu Lebzeiten beizuwohnen, und ließ sich dafür kurz vor seinem Tod im Jahr 2006 in der Kunsthalle Budapest in einem Glassarg aufbahren. Der Münchner Aktionskünstler Günter Saree verkaufte signierte Röntgenbilder seines Tumors an eine Kunstsammlung und dokumentierte sein Hadern mit dem bevorstehenden Ende auf Tonbandaufzeichnungen. Gregor Schneider wiederum treibt das fingierte Begräbnis Halászs noch einen provokativen Schritt weiter und möchte nicht lediglich sein Sterben als letztes Kunstwerk und öffentliches Ereignis in seinem „Sterberaum“ zeigen, sondern auch anderen dazu verhelfen, ihren Tod im künstlerischen Raum selbst zu gestalten.34

      Unabhängig davon machten Performance-Künstler vermehrt ihre eigene Lebensgeschichte zum Gegenstand von Kunst. Im zeitlichen Horizont der 1970er brachten vor allem weibliche Künstlerinnen wie Laurie Anderson, Rachel Rosenthal und Carolee Schneemann zugleich mit den performativen Selbstentwürfen ihre Vergangenheit auf die Bühne und thematisierten auf diese Weise das feministische Credo „The Personal Is Political“35. Den sogenannten „autobiographical performances“36 ist ein forciertes Spiel von Zeigen und Verbergen zu Eigen, das instabile Identitätskonzepte hervorbringt. Die zentralisierende Instanz des erzählend agierenden Ichs zerstäubt sich zusehends in eine Mehrzahl an heterogenen personae. Die Montage des szenischen Materials schließlich löst die lineare Narration von Lebensetappen in multiperspektivische Geflechtstrukturen auf. Mit der Dezentrierung des Subjekts und der Abspaltung in verschiedene Ich-Fragmente wird dabei die Rollenhaftigkeit menschlichen Lebens ebenso ausgestellt wie die Unverfügbarkeit des eigenen Selbst.37 Aufgrund ihres Changierens zwischen Selbstentblößung und Selbstkonstruktion verweisen die performativ hervorgebrachten Lebensgeschichten ihrerseits wiederum auf eine im Ausdrucksfeld der literarischen Autobiographie über Jahrhunderte hinweg etablierte Begrifflichkeit. Der Gestus von Inszenierung, den Wolfang Iser „als Institution menschlicher Selbstauslegung“38 begreift, da er „das Paradox ermöglicht, das Sich-nicht-haben-Können als solches zu haben“39, haftet dabei selbstverständlich nicht erst den theatral-performativen Aneignungen der rückschauenden Lebensbetrachtung an.

      Der Blick in die Geschichte der Autobiographie lehrt vielmehr, dass sich die literarische Gattung seit ihren Anfängen aus dem Zwiespalt zwischen transparenter Selbstäußerung und medialer Inszenierung und mithin aus Simulacren von Selbstpräsenz speist. Die Diagnose Erika Fischer-Lichtes, wonach „die Problematisierung der Vorstellung eines stabilen, mit sich selbst identischen Selbst“40 in der autobiographischen Performance erstmals zu einer „Demontage der Kategorie des Selbst“41 geführt habe, unterschlägt den Umstand, dass sich implizit schon lange zuvor in den autobiographischen Schriften Metarefle­xionen über die Figuration des vergangenen Ichs jenseits von faktualer Lebensdarstellung finden lassen, bis sie durch Serge Doubrovsky in den 1970ern explizit als poetologisches Programm der Autofiktion ausformuliert wurden. In Konsequenz der im Umfeld des Nouveau Roman propagierten Abkehr von realistischen Romanstrukturen im Geiste Balzacs machte Alain Robbe-Grillet mit seiner Nouvelle Autobiographie gar ein literarisches Darstellungsdispositiv stark, das die Phantasmen totalisierender und zentralisierender Ich-Geschichten abstreift, um das Ich stattdessen in zerstückelte, mehrschichtige Gestalten zu multiplizieren und dem Leser die Unauffindbarkeit des Subjekts als multifokales Verwirrspiel vor Augen zu führen. Nicht nur im Umfeld der Nouvelle Autobiographie geriert sich literarische Selbstkonstruktion seither vornehmlich als mise en abyme, die das Ich sprichwörtlich in den Abgrund schickt, um es von dort aus in gewandelten Gestalten sprechen zu lassen.

      Trotz der augenscheinlichen medial bedingten und mithin darstellungsästhetischen Differenz zwischen der literarischen Selbstbeschreibung und den thanatographischen Inszenierungen Schlingensiefs bieten Geschichte und Theorie der Autobiographie den intermedial erhellenden, erforderlichen theoretischen Referenzrahmen für Schlingensiefs Darstellungsstrategie, die mit dem theaterwissenschaftlich ubiquitär gebrauchten Begriff der Selbstinszenierung nur unzureichend zu erfassen ist. Mit dem Verhältnis zwischen dem Erscheinen-Wollen und Sich-nicht-zeigen-Können des Ichs fokussieren die in Rede stehenden Inszenierungen nicht nur die elementare Spannung der performativen Subjektkonstitution im Theater,42 sondern vor allem auch die zentrale Problematik der „retroaktive[n] Lebensbeschreibung“43 in der abendländischen Autobiographie seit ihren Anfängen. So bewahren bereits die monumentalen Ich-Bekenntnisse von Augustinus, Rousseau und Goethe die Einsicht über die Undarstellbarkeit des eigenen Lebens aufgrund der Unzugänglichkeit der eigenen Vergangenheit auf und inszenieren ein mehr oder weniger gebrochenes Selbst. Dass es sich bei diesen Fluchtpunkten des europäischen Kanons der Autobiographie um Stilisierungen von Identität auf der Grundlage von Maskierungen des Selbst handelt, blieb weiten Teilen der geisteswissenschaftlichen Forschung allerdings bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Gänze verborgen. Die Autobiographieforschung kreiste lange Zeit um das Symptom der Wahrhaftigkeit, bis die Summe der Gegenargumente der Möglichkeit einer transparenten Ich-Darstellung in der rückschauenden Lebensbetrachtung schließlich vollends den Boden entziehen sollte. Dem im populären Medienbereich nach wie vor gebräuchlichen Paradigma der Selbsttransparenz, denen das in Talkshows und Life-Doku-Soaps erprobte Seelenstriptease unterliegt, steht mittlerweile das autobiographietheoretische Postulat gegenüber, dass der Kern des Selbst im Akt der medialen Transformation nicht zu erfassen sei. Die literaturwissenschaftliche Erkenntnis, wonach es sich bei der rückblickenden Lebenserzählung nicht um ein historisch verbürgtes Dokument, sondern um ein Erfindung und Konstruktion verschränkendes Kunstwerk handelt, schärfte ein Bewusstsein dafür, dass die implizite und zuweilen gar explizite Reflexion über die nicht darstellbare Unmittelbarkeit dem selbstschreibenden Vorgang als „performativem Akt“44 seit jeher eingeschrieben war.

      Der gegenwärtige Forschungshorizont autobiographischer Theoriebildung vermittelt dementsprechend zwischen den Fragen, auf welche Weise und unter welchen Voraussetzungen es überhaupt möglich sei, das Selbst im ästhetischen СКАЧАТЬ