Sterben lernen: Christoph Schlingensiefs autobiotheatrale Selbstmodellierung im Angesicht des Todes. Johanna Zorn
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СКАЧАТЬ im Gegenteil, in deren nihilistisch-verführerischem Schweigen liegen könnte. „Nun haben aber die Sirenen eine noch schrecklichere Waffe als den Gesang, nämlich ihr Schweigen“7, lässt Kafka seinen Erzähler sagen. In seiner Version weicht selbst Odysseus vor dem verheißungsvollen Gesang zurück, indem auch er seine Ohren mit Wachs versiegelt, aus Angst davor, die Sirenen schweigen zu hören. Den Gedanken, dass die Wahrheit der Sirenen nicht in ihrem alles offenbarenden Gesang, sondern in dem das eigentliche Nichts entbergenden Schweigen gründe, komponiert Kafka seinem Text in der Möglichkeitsform ein: „Vielleicht hat er [Odysseus], obwohl das mit Menschenverstand nicht mehr zu begreifen ist, wirklich gemerkt, dass die Sirenen schwiegen“8. In betont utopischem Gestus urteilt der Erzähler: „Es ist zwar nicht geschehen, aber vielleicht denkbar, dass sich jemand vor ihrem Gesang gerettet hätte, vor ihrem Schweigen gewiss nicht.“9

      In seiner Fortschreibung fügt Kafka der Sirenen-Episode somit eine entscheidende zeichentheoretische Novität hinzu. Während Homer den Gesang der Sirenen als Verheißung chiffriert und die Überwältigung, die von ihrem Geheimnis ausgeht, in einem den Zuhörer überfordernden Zeichenüberschuss verortet, geht die Erschütterung in Kafkas Version, im Gegenteil, von der vollkommenen Abwesenheit des Zeichens aus. Der beunruhigenden Ahnung vom Nichts, so lautet die weitreichende handlungstheoretische Konsequenz, kann der moderne Held nur mehr begegnen, indem er sich durch akustische Anästhesie als Unwissender maskiert und die möglicherweise tatsächlich erschreckende Erkenntnis über die fundamentale Abwesenheit eines Dahinterliegenden erspart. Obwohl Kafkas Held nicht auf der Grundlage seiner Erfahrung wissen kann, was ihn erwartet, provoziert allein der Gedanke an das Nichts eine Schutzhandlung in ihm. Der Erzähler von Das Schweigen der Sirenen stimmt mit Sigmund Freud darin überein, dass der moderne Mensch die Tendenz habe, „den Tod beiseite zu schieben, ihn aus dem Leben zu eliminieren“10.

      Wenngleich die poetischen Konstruktionen in Homers Hypotext und Kafkas Hypertext freilich keinen Zweifel daran lassen, dass der Mensch das hinter der Grenze liegende Geheimnis niemals erfahren wird, reflektieren die Autoren unterdessen offensichtlich zwei einander diametral entgegengesetzte Jenseitsvorstellungen. Beide Entwürfe setzen der Unvorstellbarkeit des Todes eine Phantasie entgegen und revoltieren gegen „die Unsagbarkeit dieses leeren Begriffs, dem keine Anschauung korrespondiert“11, mit einer Strategie der substituie­renden Bilder, Worte und Symbole. Dem im diesseitigen Leben unverträglichen Stimmengewimmel aus der Odyssee steht eine die menschliche Vorstellungskraft überfordernde Leere in Kafkas Erzählung gegenüber. Solcherart vom Tod als Frage „Ohne-Antwort“12 kündet schon das Gilgamesh-Epos als eine der ältesten schriftlich fixierten Dichtungen. Durch den Tod seines Freundes Enkidu wird sich Gilgamesh seiner eigenen Sterblichkeit gewahr. Die Angst, die sich in sein Herz eingeschlichen hat, begleitet ihn fortan auf seiner Wanderung durch die Welt, die ihm weder das Rätsel des Lebens noch das des Todes entbergen kann.13

      Die aus der offenen Frage des Todes im Laufe der Geschichte evolvierende Disparatheit künstlerischer Topoi lässt sich an nur wenigen Beispielen verdeutlichen: In den Totentänzen des Mittelalters (dances macabres) etwa reiht sich der Tod als musizierendes Skelett oder verwesender Leichnam unter die Lebenden und fordert sie zum letzten Tanz.14 Im epischen Text Der Ackermann aus Böhmen (Entstehung um 1400) wiederum, mit dem Johannes von Tepl am Übergang von Mittelalter zu Neuzeit ein literarisches Streitgespräch des Ichs mit dem Tod inszeniert, tritt der Sensenmann als „[g]rimmiger tilger aller leut, schedlicher durchechter aller werlt, freissamer mörder aller menschen“15 auf. Shakespeare weist die beruhigende Vorstellung vom Tod als Bruder des Schlafes im Hamlet als trügerisch aus und reflektiert damit die in der griechischen Mythologie festgehaltene Verwandtschaft zwischen Thanatos, dem Gott des Todes, und seinem Bruder Hypnos, dem Gott des Schlafes. Die insgesamt fünf Fassungen von Arnold Böcklins Die Toteninsel (1886) malen den Bezirk der Toten als schauerliche und isolierte Unorte aus. Rainer Maria Rilke fasst den Tod im Buch der Bilder (1902) schließlich in die Gestalt der schweigenden Engel.

      Die abendländische Ideengeschichte künstlerischer Todesreflexionen, deren vollständige Erfassung zu endlosen Aufzählungen führen würde, bewahrt nicht nur ein breites Spektrum an Metaphern und konventionalisierten Topoi auf, sondern übermittelt verschiedenste „intersubjektive Todesdeutungen“16, die objektivitätsorientierte mit subjektiven Reden über den Tod verschränken. Künstlerische Metaphern des Todes als ästhetische Kommunikations- und Diskursivierungsangebote sollen freilich nicht die sprichwörtlichen letzten Fragen des Menschen beantworten. Vielmehr fällt ihnen die Aufgabe zu, den Gedanken an den Tod aus lähmender Sprachlosigkeit zu befreien und ihm im Sinne Jan Assmanns „handlungsermöglichende Funktion“17 zu erteilen.

      An den Anfang seiner umfassenden Studie zur Todesmetaphorik stellt Thomas Macho folgerichtig die Frage: „Worüber sprechen wir, wenn wir vom Tod sprechen?“18 Mit der permanenten Wiederholung dieser Frage im Rahmen seiner Ausführungen verweist der Autor eindringlich auf den endlosen Aufschub im Zentrum des Todesdiskurses. Da der Tod im mimetischen Sinne nicht abbildfähig ist, erfüllt seine metaphorische Reflexion stattdessen die Funktion, empirische Leerstellen innerhalb der begrifflichen Vorstellungswelt zu substituieren. Metaphern gehen mit den Gegenständen, die sie auszudrücken oder zu ersetzen versuchen, so lange ein Verhältnis des Als-ob ein, bis irgendwann der Gegenstand selbst hinter der Metapher verschwindet. In der Rede vom Tod übernimmt die Metapher als „Wort für ein anderes“19 in vielleicht radikalster Form die Aufgabe, einen Signifikanten zu übermalen, für den es keine Referenz gibt. Diese grundlegende Referenzlosigkeit macht die Todesmetapher zum Gegenbild von Blumenbergs absoluter Metapher. Gemäß dem vom deutschen Philosophen geprägten Neologismus leistet die absolute Metapher nämlich eine „Übertragung der Reflexion über einen Gegenstand der Anschauung auf einen ganz andern Begriff, dem vielleicht nie eine Anschauung direkt korrespondieren kann“20. Dagegen übergibt die Metapher des Absoluten (des Todes) der Anschauung einen Gegenstand, der der Wahrnehmung nicht zugänglich sein kann.

      Die Geschichte der Metaphorologie des referenzlosen Absoluten lehrt deren Betrachter, dass die Bilder des Sterbens und des Todes keinesfalls kontingent sind, sondern wesensmäßig auf den Wandel in der Einstellung des Menschen zum Sterben zurückführen. Der Tod, der aufgrund seiner unausweichlichen Faktizität zunächst als transhistorische Größe erscheinen mag, offenbart in seinen unterschiedlichen künstlerisch-metaphorischen Codierungen eine geradezu prozessual-dynamische Struktur, die begrifflich nur schwer unter Kontrolle zu bringen ist. Die durch zahlreiche historische Dispositive sich wan­delnden Todesreflexionen in ritualisierten Formeln, volkstümlich-bildhaften Konventionen und künstlerisch-philosophischen Artefakten haben eine komplexe thanatologische Metaphorik herausgebildet, die gerade nicht die Essenz eines letalen Phänomens, sondern vielmehr die diskursive und kulturstiftende Funktion des Erdachten freilegt. Da der Mensch naturgemäß nicht entdecken kann, was die Welt im Innersten zusammenhält, bleibt ihm, in den Worten Blumenbergs, nur „die Welt seiner Bilder und Gebilde, seiner Konjekturen und Projektionen, seiner ‚Phantasie‘“21. In den metaphorischen Entwürfen des Todes baut sich der Mensch nicht die Welt als Bild, sondern er errichtet vielmehr – im Geist des poststrukturalistischen Konstruktionsdispositivs von Sprache – aus den Bildern seine Welt. Die Annäherung an die Frage, worüber wir sprechen, wenn wir vom Tod sprechen, führt demnach notwendigerweise über die Frage, wie wir vom Tod sprechen, auf jene nach der metaphorischen Konstruktion unserer Wirklichkeit. Die Art und Weise, wie das Sterben und der Tod entweder zum Fluchtpunkt des Lebens gemacht oder ausgeklammert werden, lässt uns erkennen, wie wir über den Tod denken, was er für uns bedeutet. Die „Unmöglichkeit, die plötzlich zur Wirklichkeit wird“22, wie Goethe sagt, wird erst im Transfer der „strukturelle[n] Endlichkeit des individuellen menschlichen Lebens“23 in eine „symbolische Sinnstruktur“24 erfassbar. Ob der Tod als Feind in Form des grausigen Skeletts oder als verheißungsvolle Gestalt in Form des Jünglings Thanatos imaginiert wird, ob der Vorgang des Sterbens als willkürliches Herausreißen vor der Zeit oder als Auswanderung und Heimreise codiert ist und somit entweder die Vorstellung eines gewaltsamen oder eines sanften Sterbens evoziert,25 ob das Jenseits einen verheißungsvollen Ort gesteigerten und gerechten Lebens darstellt, in den man hinübergeht, ob man in ihm nie endende Qualen zu erwarten hat, ob er schließlich überhaupt СКАЧАТЬ