Sterben lernen: Christoph Schlingensiefs autobiotheatrale Selbstmodellierung im Angesicht des Todes. Johanna Zorn
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      Als der Regisseur Christoph Schlingensief im Jahr 2008 an Krebs erkrankte und mit der Vorstellung des eigenen Todes unmittelbar konfrontiert wurde, löste auch er seine persönliche Frage in mythisch-metaphorische Vorstellungskomplexe auf. Der ernüchternden Aussicht auf das Ausbleiben einer Antwort entgegnete er mit einem überbordenden Akt der Selbstvergewisserung, den er auf der Theaterbühne, in Blogs, in Fernsehauftritten und Interviews sowie mit der Veröffentlichung seines Krankentagebuchs durchexerzierte. Die Sehnsucht nach der hin- und hergleitenden Überschreitung der Grenze, die dem Homerischen Odysseus durch List gelingt, agierte Schlingensief im geschützten Rahmen des Theaters aus, als wollte er sicherstellen, dass der Tod solange ein Mythos bleibt, bis er eingetreten ist, und zugleich darauf hindeuten, dass es der Kunst vorbehalten bleibt, den Kampf mit dem Leben und dem Tod aufzunehmen.

      Bereits im Jahr 1998 brachte der Theaterregisseur mit einem ins chiastische Sprachbild eingelassenen Programm sein grundlegendes theatrales Darstellungsparadigma eines die Dualismen verschränkenden künstlerischen Metabolismus zur Sprache: „Ich will das Leben überzeugen, dass es zum großen Teil inszeniert ist, und das Theater, dass es ohne das Leben überhaupt nicht auskommt.“26 In seinen letzten, nach seiner Krebsdiagnose im Jahr 2008 entstandenen Inszenierungen erhielt dieses Konzept von Totalkunst existentielle Tragweite. Mit insgesamt fünf Inszenierungen, in denen er sein ‚Ich bin‘ von der Grenze des bevorstehenden Todes her fasste, trieb der Theatermacher seinen kompromisslos offenen Kunstbegriff ins Extrem, widersetzte sich dem christlich-religiösen Diktum, dass das Sterben als letzte Handlung des Lebenden „still, lautlos, wortlos und handlungslos“27 vor sich zu gehen habe und umspielte den Topos des Todes stattdessen lautstark mit den Mitteln der Kunst.

      Im Zeichen einer „neuen Sichtbarkeit des Todes“28 redete der todkranke Künstler in Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir (2008), Der Zwischenstand der Dinge (2008), Mea Culpa (2009), Sterben lernen! – Herr Andersen stirbt in sechzig Minuten (2009) und Remdoogo – Via Intolleranza II (2010) auf der Theaterbühne gegen sein Sterben an und bekräftigte auf diese Weise seinen Glauben an die Untrennbarkeit von Kunst und eigenem Leben. Gemäß der Devise, dass nicht gestorben werden könne, solange noch gesprochen würde, nutzte er überdies sämtliche ihm zur Verfügung stehenden Kommunikationskanäle für eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod vor den Augen der Öffentlichkeit. Schlingensief vertraute Trauer und Wut über seine Erkrankung während eines längeren Krankenhausaufenthalts einem Diktiergerät an und machte seine Angst vor dem drohenden letzten Übertritt durch die Veröffentlichung dieses Selbstgesprächs als Tagebuch einem gesellschaftlichen Diskurs zugänglich. War schon dieses über Monate hinweg sich erstreckende Soliloquium, das den Arbeiten Eine Kirche der Angst, Der Zwischenstand der Dinge, Mea Culpa und Sterben lernen! in unterschiedlichen Gewichtungen als Text zugrunde liegt, auf die abendländische Tradition des Bekenntnisses bezogen, das der Idee nach ein analytisch beobachtendes vom affektiv betroffenen Ich abspaltet, so dienten seine zahlreichen Fernsehauftritte und Interviews sowie letztlich auch seine Homepage Geschockte Patienten – Wege zur Autonomie29, die ein interaktives Therapieangebot für an Krebs erkrankte Menschen bereitstellen sollte, einer extravertierten Befestigung seines durch Krankheit bedrohten Selbst. Die auf der Homepage angeführten Rubriken „Medizin“ und „Religion“ strich er kurzerhand durch, um als Dr. Schlingensief stattdessen Einblicke in „seine neuesten und dringlichsten Gedanken zu Krebs, Angst und zum Patientendasein“30 zu geben.

      Die vorliegende Arbeit widmet sich dieser totalen Ich-Geste, die Schlingensief mit dem inklusiven, Leben und virtuellen Tod subsumierenden Kunstverständnis in seinen letzten Inszenierungen auf die Spitze getrieben hat. Der Zwischenstand der Dinge, der eine theatrale Skizze zu Eine Kirche der Angst darstellt, sowie Remdoogo – Via Intolleranza II, in dem die extensive Ich-Perspektivierung zur künstlerischen Reflexion eines Vermächtnisses führt, vergegenständlicht in den Plänen zum Bau eines afrikanischen „Operndorfes“, stehen dabei nicht im Zentrum des analytischen Interesses. Stattdessen fokussieren die Ausführungen zu Schlingensiefs Inszenierungspraxis im Angesicht des eigenen Todes die Arbeiten Eine Kirche der Angst, Mea Culpa und Sterben lernen! (vgl. Abb. 1) und folgen dabei einem spezifischen Erkenntnisinteresse. Die Erörterung basiert auf der grundlegenden Annahme, dass Schlingensief in den genannten Inszenierungen sein gegenwärtiges und sein vergangenes Ich von der Grenze des Todes her entwirft. Dieser thanatographische (griech. thanatos, Tod; graphein, schreiben, ritzen) Grundgestus mobilisiert seinerseits eine Fülle an Selbstäußerungspraktiken, die auf den Fluchtpunkt der Autobiographie zulaufen und nach Maßgabe der zur Verfügung stehenden theatralen Mittel in das intermediale Darstellungsdispositiv der Autobiotheatralität verwandelt werden.

      Abb. 1: Chronologische Auflistung der thanatographischen Inszenierungen Schlingensiefs

      Die Arbeiten Eine Kirche der Angst und Mea Culpa stellen das Resultat einer umfassenden rückschauenden Lebensbetrachtung im Medium Theater dar. Im Fluxus-Oratorium Eine Kirche der Angst setzte Schlingensief auf der Grundlage seines Tagebuchs zu einer Bilanzierung seines Lebens an. Dabei hob er die Trennlinie zwischen Kunst und Leben im Geist des titelgebenden Fluxus programmatisch auf. In der darauffolgenden ReadyMadeOper Mea Culpa begab er sich dann im Zuge einer krankheitsgenetischen Spurensuche hauptsächlich in seine künstlerische Vergangenheit und versuchte seinem Selbst durch die theatrale Funktionalisierung des katholischen Schuldbekenntnisses die verloren gegangene Autonomie zurückzuerstatten. Die Produktion Sterben lernen! markiert schließlich einen Wendepunkt, mit dem das Verhältnis zwischen der Thematisierung des Ichs und der Reflexion des Sterbens eine gegenüber den vorangegangenen Inszenierungen andere Gewichtung erhält. Der Referenzrahmen der Autobiographie bleibt darin zwar virulent, wird allerdings nicht, wie in den vorigen Inszenierungen an der leidenden Figur Schlingensiefs durchgespielt, sondern am sprichwörtlich Anderen exemplifiziert. Da Schlingensief der baldige Tod aufgrund seines zwischenzeitlich verbesserten gesundheitlichen Zustandes während der Produktionsphase nicht mehr unausweichlich gegenüberzustehen schien, tritt die pseudo-autobiographische Geste der Befestigung des Subjekts darin zugunsten einer analytisch distanzierteren Metareflexion des Lebens als Einübung in den Tod in den Hintergrund. Konstitutiv für diese Inszenierung ist neben der theatralen Camouflierung von Identitätskonzepten vor allem das Philosophem des melete thanatou, des Todesbedenkens.

      In ihrer theatralen Ästhetik zeigen die Arbeiten sowohl Verbindungs- als auch Trennungslinien zu Schlingensiefs früherem Schaffen auf, als deren zentraler Angelpunkt die ästhetische Inkorporation von Paradoxa und Widersprüchlichkeiten gelten mag. Zu den immer wiederkehrenden Bausteinen des Labels Schlingensief-Theater gehörten seit jeher die doppelte Besetzung der Positionen des Autorregisseurs und des Performers, die Gleichzeitigkeit kontradiktorischer Sinnschichten, die Durchlässigkeit der Grenzen zwischen Ernst und Spiel, Fakt und Fiktion; der weitgehende Verzicht auf einen konsistenten dramatischen Rahmen, die ästhetische Verdichtung von Trash und philosophischem Anspruch, die Einlassung radikaler politischer Kunst in popularmediale Darstellungskonventionen; schließlich der Wechsel zwischen ironischem und ernst­haftem Tonfall, der Ausbruch aus dem Theaterraum auf die Straße sowie die kontinuierliche Arbeit mit Laiendarstellern. Hatte schon die Suche des Filmregisseurs Schlingensief nach neuen Darstellungsformen zum ästhetisch spannungsgeladenen Aufeinandertreffen des europäischen Autorenfilms mit den amerikanischen Exploitation- und Splattergenres geführt, so wurde der ästhetisch forcierte Widerstreit unterschiedlicher Bildordnungen für seine Theaterarbeiten geradezu konstitutiv. Die Einflechtung von intermedialen Bezügen aus Film und Fernsehen sowie die Kombination von Alltagsjargon mit politischen und philosophischen Diskurseinheiten machten die Medienkollision in seinem hypermedialen Theater zum elementaren Darstellungsprinzip. Die aus der theatralen Aneignung der filmischen Montagetechnik erwachsenen szenischen Collagen zeigen deutlich, dass sich sein Verständnis einer transposition d’art nicht auf die Synthese einer wechselseitigen Erhellung der Künste,31 sondern vielmehr auf eine Montage des Bruchs bezog, die maßgeblich dafür verantwortlich war, dass Schlingensiefs Theater zu einem СКАЧАТЬ