Machtästhetik in Molières Ballettkomödien. Stefan Wasserbäch
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СКАЧАТЬ Das moralische Substrat wird ästhetisch neutralisiert, seinem moralischen Duktus enthoben. Die transformierte Handlungswelt besteht weiterhin ohne die Restitution der alten Ordnung fort, allerdings unter dem Deckmantel einer List, die den subversiven Charakter des Sujets maßgeblich mitprägt.

      Unter diesem Gesichtspunkt erscheint es notwendig, eine dritte Abstufung der Sujethaftigkeit zu etablieren, das Pseudo-Metaereignis, das – so meine Definition – dann vorliegt, wenn eine Figur die Grenze zweier semantischer Räume konspirativ übergeht, allerdings infolgedessen das System dieser semantischen Räume in der dargestellten Welt hypothetisch im Sinne eines metafiktionalen ‚Als-ob‘ „selbst in der Zeit transformiert wird“ und sich der Zustand der Figur verändert. Die Weltordnung wird mit einer List modifiziert und es findet keine heldenhafte Konfliktaustragung, keine Endbereinigung statt. Das Pseudo-Metaereignis revolutioniert folglich die Ausgangssituation der Handlungswelt in der Komödie, obgleich die Reaktion auf die Grenzüberschreitung ausbleibt, da die Geschichte vorzeitig endet und mit Balletttänzen ausklingt. Da die Endsituation im Einklang mit den Intentionen der vermeintlich reüssierenden Figur steht, zeigt dieses Schauspiel ein Potenzial an subversiven Elementen auf. Das Theaterstück divergiert sowohl vom eigentlich herrschenden Weltbild der Handlungswelt in der Komödie als auch von der tatsächlichen Wirklichkeitserfahrung der Zuschauer, sodass ein komplexer Grenzraum zwischen gesellschaftlicher Referenzialität und (meta-)theatraler Fiktion entsteht. Diese Komödien enden im Zeichen des Scheins eines Metaereignisses, sind aber aufgrund der inszenierten Täuschung in ihrer Sujethaftigkeit als Pseudo-Metaereignisse zu bezeichnen. Ein limitiertes Metaereignis grenzt sich schließlich von einem Pseudo-Metaereignis dadurch ab, dass hier eine objektive Weltbildtransformation gelingt und sonach ein höheres revolutionäres Potenzial impliziert ist. In Anbetracht der Tatsache einer Koexistenz von Pseudo-Metaereignissen und limitierten Metaereignissen spiegeln Molières Ballettkomödien gesellschaftliche Umbrüche in ihren Sujethaftigkeitsgraden wider.

      Für die Erfassung der Sujethaftigkeit der Komödien spielt die Struktur der einzelnen Sujetschichten eine wichtige Rolle, die wiederum im Hinblick auf die Bestimmung der komischen Agone relevant sind. Die erläuterten Zusammenhänge lassen erkennen, dass sich das künstlerische Sujet in verschiedene Schichten unterteilen lässt, da die sujetkonstitutiven Ereignisse einen Knotenpunkt von textexternen und -internen Weltsystemen bilden. Sie werden sowohl auf den lebensweltlichen Kontext hin zugeschrieben als auch bedeutsam im Hinblick auf ihren binnenfiktionalen Handlungsweltkontext. Die Hauptsujetschicht orientiert sich am kulturellen System, da dieses den Maßstab für die Sujethaftigkeit literarischer Texte bildet; sie ist als Grundstruktur zu bezeichnen. Ergänzend treten textspezifische Nebensujetschichten hinzu, die auf dieser Grundstruktur beruhen, sich aber aus dem textinternen Normenverständnis ergeben, welches sich in Molières Ballettkomödien aufgrund unmoralischer wie auch amoralischer Verhaltensweisen der Figuren in der Handlungswelt konstituiert. Es ist davon auszugehen, dass beide Schichten in einem Interdependenzverhältnis zu den genannten Kommunikationsebenen stehen.13 Daraus folgt, dass die Sujetebenen als „Ermöglichungsmomente für bestimmte Vermittlungsformen“14 begriffen werden. Der thematische Kern der Ballettkomödie entfaltet sich über die verschiedenen Sujetschichten und die Kommunikationsebenen. Doch worin besteht dieser thematische Kern in Molières Ballettkomödien?

      2.2.1 Handlungsaspekte und Sujetstruktur

      Jacques Truchet leitet das Vorwort seines Sammelbandes Thématique de Molière mit einem Wort ein, das die thematische Dimension der Komödien repräsentiert: ‚Polyphonie‘. Es demonstriert die Themenvielfalt sowohl innerhalb eines Theaterstücks als auch in der Werksgänze. Um die Gesamtheit des Komödienuniversums überblicken zu können, sind die Sujetstrukturen der Stücke im Einzelnen zu betrachten. Hierzu erleichtert ein Zitat von Truchet den Einstieg:

      La thématique moliéresque est toujours strictement hiérarchisée: en chaque pièce, en chaque scène, en chaque tirade, un thème majeur et central draine tous les autres et assure l’unité; les autres lui sont subordonnés et n’apparaissent qu’en passant, quitte à ce qu’en une autre pièce la hiérarchie se trouve inversée […].1

      Es handelt sich um eine hierarchisierte Polyphonie und nicht um eine gleichrangige. Diese Erkenntnis lässt sich für mich gemäß den obigen Ausführungen mit den Begriffen ‚Hauptsujetschicht‘ und ‚Nebensujetschichten‘ fassen. Der Terminus ‚Sujet‘ ist dem der ‚Handlung‘ vorzuziehen, da ersterer im Unterschied zur rein dramenstrukturierenden Handlung wegen seiner Korrespondenz mit dem kulturellen System in Bezug zu zeitgenössischen Moral- und Wertevorstellungen steht. Dennoch erscheint es an einigen Stellen der Analyse zum Zwecke einer differenzierten Betrachtung von Belang, beide Begriffe zu verwenden. Eine Engführung der Termini bestimmt den Begriff der ‚Sujetstruktur‘. Manfred Pfister spricht von einer triadischen Struktur der Handlung im Drama, die aus einer Ausgangssituation, dem Veränderungsversuch und der veränderten Situation besteht.2 Dieser Vorgang ist als Sujetbewegung zu bezeichnen, da sich der thematische Kern unter dramentextstrukturierenden Konditionen ‚bewegt‘. Die Handlungsstruktur lässt sich folglich aus der Sujetstruktur ableiten und über den Sujetbegriff lassen sich lebensweltliche Moralkonzeptionen auf den Dramentext applizieren.

      Der Handlungsbegriff zentriert sich auf eine Figur, die in der Haupthandlung der Komödie der komische Held ist. Von ihm und seiner Motivation wird die Handlung in Gang gebracht. Diese Motivation wird mit dem von Henri Bergson geprägten Begriff der idée fixe näher beschrieben. Es handelt sich um eine eigensinnige Idee, die von einer Hauptbühnenfigur unnachgiebig verfolgt wird; selbst wenn deren Ausführung ständig unterbrochen wird, kommt die von ihr besessene Figur immer wieder auf sie zurück.3 Das handlungsmächtige Subjekt ist der komische Held in Molières Komödien, der seine Ideologie verabsolutiert und maßgeblich das Handlungsgerüst beeinflusst. Das Initiationsereignis des Umschlagens von einer vernünftigen zu einer unvernünftigen Figur wird in den Komödien impliziert, nicht aber thematisiert; eine Thematisierung erfährt lediglich das Ausleben der transformierten Persönlichkeit. Die anderen Bühnenfiguren widersetzen sich der Entfaltung dieser idée fixe und sorgen für einen Konflikt. Besondere Brisanz erhält dieser Konflikt dadurch, dass die komischen Helden Autoritätsfiguren in den Handlungswelten verkörpern, sodass sich die Auseinandersetzung mit den anderen Bühnenfiguren bis zu einer hochgradigen Sujethaftigkeit im Spiel hochschaukeln kann. Aus dieser Konstellation ergibt sich eine Dynamik, anhand derer sich die Komödienhandlung im Sinne eines abstrakten Strukturprinzips als dominant paradigmatische Reihung von ridicula charakterisieren lässt.4 Ein Moment der Unordnung dient als Ausgangspunkt für die Intrige, die letzten Endes ein Tauziehen um die Macht thematisiert. Molières Komödiensujets stehen im Zeichen eines Machtkampfes, denn dort wo es Macht gibt, gibt es Widerstand.5

      Bevor es jedoch zu einer Auseinandersetzung zwischen dem komischen Helden und den anderen Figuren kommt, fand bereits eine psychische Konfliktsituation im Inneren des komischen Helden statt, die von einer Grenzüberschreitung gezeichnet ist und deren Resultat in seinem Agieren exteriorisiert wird. Dieses präkomödiale Dilemma prägt die Ausgangslage der Komödienintrige. Der komische Konflikt ist auf die idée fixe zurückzuführen, die wiederum innerpsychisch im komischen Helden verwurzelt ist und ihre Motivation im amour-propre hat. Der Begriff der Eigenliebe ist im Diskursfeld der französischen Moralistik zu verorten, die den interêt als symptomatisch für das menschliche Handeln begreift. Die Eigenliebe steht vor dem gesellschaftlichen Interagieren des Individuums, vor der sozialen Rolle.6

      Diese konfliktive Situation im Innern des komischen Helden lässt sich mit Lotmans Sujetmodell erfassen, weil der komische Held innerhalb der Gesellschaft lebt und sich die Konsequenzen seines vom amour-propre gesteuerten Lebens im sozialen Umfeld niederschlagen. Es existieren in diesem Fall zwei semantische Teilräume: Ein Teil ist mit dem Begriff der bienséance, der andere mit seiner Aufhebung, der malséance, zu besetzen. Das Konzept der bienséance ist äußerst vielschichtig, wie Abbé de Bellegarde durch die Pluralisierung des Begriffs kenntlich macht:

      Les bienséances sont d’une étendue infinie: СКАЧАТЬ