Название: Im Stillen klagte ich die Welt an
Автор: Dora Stettler
Издательство: Bookwire
Жанр: Зарубежная психология
isbn: 9783038550426
isbn:
Langsam trippelte ich das Bord hinauf, liess mich auf die Knie und dann auf den Boden fallen. Dann liess ich den Tränen freien Lauf. Markus konnte mich nicht trösten. Er musste selbst mit der neuen Situation fertig werden.
Nach geraumer Zeit versiegten meine Tränen. Ich hob den Kopf und schaute mich um. Ich fühlte mich in eine neue Welt verpflanzt. Vorsichtig drehte ich mich um und rollte das Bord hinunter – im Sonntagskleid, aber das war nun auch egal.
Unten am Abhang hätte ich beinah ein Huhn überrollt. Flatternd und gackernd lief es davon. Ich erhob mich und strich mir das Kleid glatt. Darauf stieg ich wieder nach oben und rollte gleich noch ein weiteres Mal hinunter.
Da öffnete sich im Bauernhaus die Tür, durch die man gleich in die Küche gelangte. Die Bäuerin stand da und winkte uns herbei. «Ihr dürft die Hühner nicht so erschrecken, sonst legen sie keine Eier mehr», erklärte sie uns. Diese Belehrung ist mir mein Lebtag in Erinnerung geblieben wie alles an jenem ereignisreichen Tag.
Die Bäuerin rief uns ins Haus, die Mutter wolle sich verabschieden.
Mit gemischten Gefühlen betrat ich die Stube, stellte mich vor Mama hin und sagte: «Da du uns nicht mehr zurücknehmen willst, musst eben allein nach Hause gehen!»
Es war ein Notschrei aus meinem aufgewühlten Innern. Das Verhältnis zu meiner Mutter sah ich plötzlich aus einer ganz neuen Perspektive. Wir hatten schmerzhaft zur Kenntnis nehmen müssen, dass Mama nicht mehr uns gehörte und wir fühlten, dass wir ihr lästig waren.
Nachdem sie dann noch Markus «abgeliefert» hatten, hakte sich Mama bei Karl ein und flüsterte ihm zu: «Nun haben wirs geschafft, jetzt sind wir frei.» Markus stand zum Lebewohl winken gleich hinter ihnen und musste diese Worte mit anhören.
Bis zur letzten Minute hatte ich gehofft, Mama würde sich erbarmen und uns wieder mit nach Hause nehmen. Als sie aber gegen den Zufahrtsweg geschritten war, schwand jegliche Hoffnung dahin.
Wie angewurzelt blieb ich auf dem steinigen Vorplatz stehen. Im Geiste sah ich mein Zuhause, die Stadt mit den Laubenbogen, den Zytglogge und Papas Gartenhäuschen; ich hörte das singende Tram … Dies alles sollte ich für lange Zeit nicht mehr wiedersehn. Ich durfte nicht mehr an Mamas Hand über die Kornhausbrücke trippeln.
Verbittert und traurig blieb ich im Hof und starrte auf die Topinamburstauden, hinter denen meine Angehörigen verschwunden waren. Ich fühlte mich verlassen; allein unter fremden Leuten auf diesem Bauerngut.
Vom Hause her näherte sich meine neue Betreuerin, Frau Burri. Sie nahm mich an der Hand und sagte: «Komm, wir gehen jetzt auf den Hohbüehl.»
Stumm schritt ich neben der fremden Frau einher. Sie führte mich über einen Graben und auf Waldwegen einer Anhöhe zu. Wir näherten uns einem Haus, von dem vorerst lediglich das mächtige, steile Dach erkennbar war. Dort, wo der Brunnen plätscherte, schlüpften wir unter das Riesendach.
Der Hohbüehl war Frau Burris Elternhof. Dort wurde ich ausführlich begutachtet: «Jawohl, da hast du nun es gäbigs Meetscheli, das kann dir Kommissionen machen oder dir in der Küche zur Hand gehen», meinte die Hohbüehl-Bäuerin zu ihrer Tochter, meiner Betreuerin. Vor dem Kommissionenmachen graute mir schon jetzt. Ich fürchtete die vielen grossen Hofhunde, die einsamen Wege und den dunklen Wald, den wir durchquert hatten.
Die Leute auf dem Hohbüehl mochten mich. Der Hohbüehl war ein grosser, alter Hof. Die Küche sehr geräumig und rabenschwarz, eine typische Rauchküche. Erst konnte ich rein nichts sehen in dieser Dunkelheit, dann musste ich immer die Augen zukneifen, weil mich der Rauch brannte. Als die Vorführ-Visite zu Ende war, mussten wir beinah im Laufschritt zurück auf die Lischenmatte, auf den Bauernhof, der künftig mein neues Zuhause sein sollte.
Dort beschäftigte sich die Bäuerin gleich am Holzherd. Indessen schaute ich mir noch einmal meine neue Schlafstätte an: ein Holzbett mit Sprossenwänden, auf der Vorderseite eine etwas niedrigere, um bequem einsteigen zu können. Dies alles nahm ich durch einen Schleier von Tränen wahr, gegen die ich dauernd ankämpfen musste.
Dicht neben diesem Bett befand sich eine Tür, die in die hintere Stube führte. Überrascht starrte ich in diesen Raum. Dort lagen auf einem Bett alle meine Kleider! Alles war da, auch Winterkleider. Demnach musste ich längere Zeit hier verbringen. Eine Bestätigung mehr, die Hoffnung auf eine Rückkehr nach Hause zu vergraben.
Mama hatte wirklich alles planmässig vorbereitet. Ohne dass wir etwas ahnten, hatte sie unser Hab und Gut, Puppen und etliches Spielzeug inbegriffen, schon Tage zuvor in diese abgelegene Gegend befördert. Natürlich mit Hilfe ihres Freundes Karl.
Uns fiel bei diesem Zusammenpacken nichts Besonderes auf. Mama hatte zu diesem Zeitpunkt ohnehin den ganzen Hausrat in Kisten verstaut. Sie war im Begriff, in eine neue Wohnung im Sulgenbach-Quartier umzusiedeln. Beiläufig teilte sie uns mit, künftig werde auch Karl in diesem Haushalt leben! Für uns Kinder jedoch hatte das neue Paar offenbar keinen Platz vorgesehen.
Als Angenommene
Nun lebte ich also gezwungenermassen bei diesem Ehepaar auf der Lischenmatte. Kürzlich hatten sie ihren dreijährigen Sohn verloren. An was er starb, habe ich nie herausgefunden.
Der Bauer war eher klein, breitschultrig und hatte einen schleppenden Gang. Dies zeigte sich besonders, wenn er mit dem Melkerkessel über die Bretter der Güllengrube schlarpte. Die Frau war schlank, was ihre schwarze Kleidung noch betonte. Sie hatte ein frisches Gesicht und stets rote Wangen. Ich glaubte, sie hätte sie angemalt, wie etliche Stadtfrauen es taten.
Die beleidigte Bäuerin entgegnete empört: «Was stellst du dir eigentlich vor? Das haben wir doch nicht nötig. Für einen solchen Blödsinn hätten wir ohnehin weder Geld noch Zeit. Wir sehen nicht aus wie gebleichte Leintücher; unsere Farbe ist echt.»
Ich lernte sehr bald, dass Stadt und Land verschiedene «Gesichter» hatten. Ein Städter war unter der Landbevölkerung leicht zu erkennen und galt als Fremdling. Umgekehrt fühlte sich ein Bauer in der Stadt deplatziert.
In dieser Landwirtschaftsgegend hatte die Schule noch nicht begonnen; die Kinder genossen zwölf Wochen Sommerferien. Erstaunlicherweise fand ich auch meinen alten Schulsack in der hinteren Stube.
Wo immer es ging, musste ich bei der Arbeit mithelfen. So etwa Kleeblümchen abzupfen, die bestimmt waren für den Samen im folgenden Jahr, Hühner füttern, Holz herbeitragen, Geschirr trocknen und abends den Hühnerstall schliessen. Die Arbeit, die ich nicht mochte und mir Mühe machte, war die Mithilfe bei der Kartoffelernte. Ich kniete neben dem Kratten und sortierte die so genannten «Säuer» von den Speisekartoffeln aus. Die Gefässe wollten und wollten sich nicht füllen. «Wenn du so weitermachst, gibt es keinen Ankebock zum zʼVieri», warnten sie mich.
Von Heimweh geplagt und in Gedanken versunken, zerdrückte ich in meiner Hand eine harte Erdknolle, schaute zu, wie der Sand zwischen den Fingern auf die Erde rieselte, dann sagte ich im Flüsterton: «Ich mag gar keinen Ankebock; viel lieber möchte ich wieder nach Hause gehen.»
Die Bauersleute antworteten nicht. Sie kehrten mir wieder den Rücken zu, schlugen den Karst in die Ackerfurchen und beförderten СКАЧАТЬ