Название: Heinrich von Kleist
Автор: AAVV
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Oberta
isbn: 9788437092041
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Als letzten Punkt hatte ich die Körperlichkeit und den Charakter des Ereignisses herausgegriffen, mit denen sich Kleist von der cartesianischen Moderne fortbewegt. Volker Klotz versucht zu zeigen, wie der Sosias des Amphitryon als radikaldramatische Figur Theater unmittelbar über Körperlichkeit zur Anschauung bringt (vgl. Klotz, 1996: 76). Was für die Figur des Sosias im vorliegenden Kontext besonders ins Auge sticht, ist die von Molière übernommene und gesteigerte ironische Descarteskritik. Wenn Sosias sich über göttliche Schläge seiner selbst versichert, so geschieht dies nicht in rationaler Form. Er durchstreift mehrere Möglichkeiten der Selbstvergewisserung – Name, göttliche Ordnung, soziale Funktion und vor allem Erinnerungen als rein privates Wissen –, bis er zu dem Punkt gelangt: «Man muß, mein Seel, ein bißchen an ihn [das zweite Ich] glauben» (Vs. 321).2 Den von Descartes ausgeschlossenen Wahn sowie die Möglichkeit der Nicht-Identität bricht Kleist ironisch:
Träum’ ich etwa? Hab ich zur Morgenstärkung
Heut mehr, als ich gewöhnlich pfleg’, genossen?
Bin ich mich meiner völlig nicht bewußt?
[...]
Nahmst du den Stock zur Hand nicht, und zerbläutest
Auf das unmenschlichste den Rücken mir,
Mir ins Gesicht behauptend, daß nicht ich,
Wohl aber du Amphitryons Diener seist.
Das Alles, fühl ich, leider, ist zu wahr nur;
Gefiel’s den Göttern doch, daß ich besessen wäre.
(Vs. 278–296, Hervorhebungen von Vf.)3
Was Sosias die entscheidende Selbstgewissheit vermittelt, da über das Denken keine Auskunft zu erhalten ist, ist in erster Linie der körperliche Schmerz, den er empfindet.
Die Selbstidentität wird bis zur bereitwilligen Verleugnung aus ihm herausgeprügelt, verbleibt aber dennoch ohne Alternative: Ich kann nichts anderes sein als ich und kann nicht nicht sein und in diesem Sein erleide ich Schmerzen. Statt der cartesianischen res cogitans ist es für Sosias also die res extensa, die von Descartes abgetrennte Körperlichkeit, die letztlich sein Sein vergewissert.
BIBLIOGRAPHIE
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TIECK, Ludwig (1826): «Vorrede», in ders. (Hg.): Heinrich von Kleists gesammelte Schriften, Berlin, Reimer, S. 3-66.
1. Klaus Müller-Salget spricht für die Erzählungen von «einer schon rücksichtslos „unwahrscheinli-chen” Zufälligkeit des Handlungsablaufs» (ders. in Kleist, 1987-1997, III: 689).
2. Kleist wird nach der Frankfurter Studienausgabe des Deutschen Klassiker Verlages zitiert.
3. Zum Vergleich mit Molière vgl. Helmut Grugger, 2010: 97.
GOTT, MENSCH, TIER. HEINRICH VON KLEISTS KONZEPT EINES ANTHROPOLOGISCHEN RISSES IM MENSCHEN UND DIE THEORIE DER GREAT CHAIN OF BEING
Reinhold Münster
Universität Bamberg
Wie der Mensch das Glück erlangen könne, dieser Frage stellte sich der junge Heinrich von Kleist während seiner Militärzeit in einer Reflexion mit dem Titel Aufsatz, den sichern Weg des Glücks zu finden und ungestört – auch unter den größten Drangsalen des Lebens – ihn zu genießen! (Kleist, 1994, II: 301-315). Den Essay widmete er dem melancholischen Freund August Otto Rühle von Lilienstern. Inhaltlich bewegte sich Kleist auf der Ebene der britischen Moralphilosophie, den Lehren der römischen Stoa und der Nikomachischen Ethik des Aristoteles. Das Ideal sei der tugendhafte Weise, der den goldenen Mittelweg zur Harmonie des Lebens finde. Unterschieden wurde in die innere Glückseligkeit und das Glück der Fortuna. Um sein Glück zu erkennen, müsse der Mensch einsehen, dass ein gleiches Gesetz über der moralischen und der physikalischen Welt walte (Kleist, 1994, II: 308). Junge Menschen wie Rühle und Kleist könnten dieses jedoch nicht verstehen, sie wankten auf regellosen Bahnen umher, die Gärung der jugendlichen Kräfte verhindere die Einsicht in Liebe und Wohlwollen. Die Einsicht erweise sich als schwierig, denn es schwebe, so Kleists Erläuterung, ein «ewiger Schleier» über den Geheimnissen der Welt (Kleist, 1994, II: 310). Kleist erklärte:
Irgendwo in der Schöpfung muss es sich gründen, der Inbegriff aller Dinge muss die Ursachen und die Bestandteile des Glückes enthalten, mein Freund, denn die Gottheit wird die Sehnsucht nach Glück nicht täuschen, die sie selbst unauslöschlich in unsrer Seele erweckt hat... (Kleist, 1994, II: 301).
Kleist mahnte den Freund, auf diese «geheime göttliche Kraft» zu vertrauen (Kleist, 1994, II: 306).
Mit dem kleinen Essay stellte СКАЧАТЬ