Название: Der Mann, der aus dem Fenster sprang
Автор: Ludwig Lugmeier
Издательство: Bookwire
Жанр: Зарубежная психология
isbn: 9783956140167
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Er drückte einen Finger ins Auge und da sprang das Auge in die Hand.
»Das sieht alles«, sagte er. »Und wenn der Hitler wieder kommt…«
Er lachte. Es war das einzige Mal, daß ich ihn lachen hörte. Es klang, als riebe man zwei Steine aufeinander. Ich sah ihn zum letzten Mal, als der Hausherr ihn über den Hof jagte. Er hatte einen Axtstiel in der Hand und Unenkel rannte von einem Baum zum anderen und zuletzt drehte er sich um den Stamm. Dann flog er ins Gras und Herr Miele prügelte auf ihn ein.
»Jetzt ist er im Irrenhaus«, meinte meine Mutter später, »da hat er schon lang hingehört.«
Ich sah den Vogel zum letzten Mal im Winter. Er war weiß und ich stand auf und ging ans Fenster. Da sah ich ihn sitzen im Geäst des Kastanienbaums. Als ich wieder im Bett lag, war er verschwunden. Ich schlief ein und am Morgen hauchte ich ein Guckloch ins Fensterglas und sah die schwarzen Äste des Baums, das verschneite Dach der Scheune, die weißen Wiesen zum See. Auf dem Weg führte eine Trampelspur zur Bootsanlegestelle. Der See war zugefroren und über das Eis fuhren ein Lieferwagen und Fuhrwerke.
Es war kalt und vielleicht krachten die Bäume wirklich. Es war so kalt, daß meine Mutter Angst hatte, die Kohlen würden nicht reichen. Sie legte Ziegelsteine ins Backrohr, wickelte sie in Handtücher und tat sie in die Betten. Aber am Morgen waren sie so kalt wie die Dielen und der Flur. Der Wasserhahn am Ende des Gangs lief und lief und wenn meine Mutter morgens den Herd anheizte, war das Wasser im Eimer gefroren. Von der Dachrinne wuchsen Eiszapfen, die immer länger und länger wurden.
Meine Mutter zog ihre Pullover unter den Mantel und zwei Paar Socken an, bevor sie in die Knobelbecher stieg. Sie setzte sich eine Mütze mit Ohrenklappen auf und wickelte uns in Decken, dann zog sie den Schlitten den Pfad hinunter zum See. Ein Fuhrwerk kam von Schlehdorf über die Eisfläche. Zwei Pferde waren vorgespannt.
»Das Eis ist dick«, sagte sie, »schaut. Die kommen von Schlehdorf.«
Manchmal hielt das Fuhrwerk an. Dann zogen die Pferde wieder. Die Luft war klar, auf dem Eis lag blau der Schatten des Jochbergs. Als ich den Eisenbeschlag des Schlittens anfaßte, klebten die Finger fest. Wir hielten uns dicht am Ufer. Der Schlitten glitt leicht, nur wo der Wind den Schnee weggeweht hatte, knirschte das Eis unter den Kufen. Sie zog und dann stellte sie sich hinter den Schlitten, schob, gab dem Schlitten einen Schubs und der glitt von ganz alleine zehn Meter weit. Als wir zur Renke kamen, zog sie wieder. Ihre Stiefel waren schwer, aus Leder, und die Sohlen mit Nägeln beschlagen. Sie stammten aus dem Krieg. Meine Großmutter hatte sie einem Soldaten abgekauft. An der Renke stand eine Fischerhütte. Dort trafen sich im Sommer Angler an der Bucht. Sie wich vom Ufer ab und nun war die Straße weit weg. Ein Traktor zog einen hölzernen Schneepflug an einer Kette hinter sich her.
»Der Schneepflug«, sagte sie. »Er fährt ins Altjoch, damit sie dort hinten rauskönnen.«
Sie zog weiter, das Eis knackste. Da blieb sie stehen und sah zum Fuhrwerk, das nun schon viel weiter war. Zwei schwere Pferde waren davor gespannt und auf dem Fuhrwerk saß ein Mann. Sie zog wieder weiter und das Eis brach unter ihr ein. Sie versank im Wasser und als sie wieder hochkam, hatte sie keine Mütze mehr auf dem Kopf. Sie schob den Schlitten ein Stück aufs Eis und versuchte auf die Scholle zu klettern, aber die Scholle brach ab. Wieder ging sie unter und als sie dann nochmals hochkam, schrie sie. Es klang ganz leise. Der Schneepflug war längst vorbeigefahren und der Mann auf dem Fuhrwerk weit weg. Und da schob sie den Schlitten wieder ein Stück voran und als sie endlich aufs Eis stieg, hatte sie nur noch einen Knobelbecher an. Ich hatte ihr zugesehen und war ganz ruhig. Alles war weiß. Nur das Wasser in dem Brechloch war grün. Und jetzt lief sie mit einem Knobelbecher über das Eis und zog den Schlitten ruckweise hinter sich her. Dann blieb sie stehen, zog den Knobelbecher aus und der blieb liegen auf dem Eis, bis Gusti ihn holte.
»Weil die Fischer dort Löcher ins Eis hacken«, sagte Gusti.
»Von Schlehdorf ist ein Fuhrwerk über den See gefahren«, erwiderte meine Mutter.
Meine Großmutter zerschnitt den Stiefel später mit ihrem Messer.
»Da ist der Stiefel nicht schuld dran«, sagte meine Mutter.
Meine Großmutter schob die Lederstücke in den Herd.
»Der Mantel hat mich runtergezogen«, sagte meine Mutter, »der ist ganz schwer geworden.«
»Der Tod ist unterm Eis«, sagte meine Großmutter.
»Das ist eingebrochen«, sagte Gusti, »weil die Fischer Löcher reinschlagen.«
»Wenn er dich hätte haben wollen«, sagte meine Großmutter, »wärst nicht wieder rausgekommen.«
»Er soll in die Kirche gehen und eine Kerze anzünden, damit der liebe Gott auf ihn aufpaßt«, sagte meine Mutter.
Im Frühjahr, als ich schon fast fünf war, schickte sie mich in die Kirche, es war das letzte Jahr in Kesselberg. Die Sparkasse hatte meinen Eltern einen Kredit bewilligt und die Gemeinde hatte ihnen ein Grundstück auf 99 Jahre Erbpacht überlassen. Der Ort hieß Ried und lag zehn Kilometer von Kesselberg entfernt. Er hatte 300 Einwohner und ebensoviele Kühe. Hier war mein Vater geboren und seine Eltern lebten dort noch in einem Austragshäusl mit Plumpsklo im Schuppen. Das Grundstück grenzte an den Bahndamm am Rand des Orts. Vor zehn Jahren war es noch eine Müllhalde gewesen und 100 Meter weiter wurde der Müll immer noch in die Grube gekippt, die beim Bau des Bahndamms entstanden war. Manchmal fuhr ich mit meiner Mutter hin. Dann schauten wir zu, wie mein Großvater den Keller aushob und mit einer hölzernen Schubkarre auf einer Bretterkiste Lehm nach oben schob. Er war über siebzig, hatte einen Schnauzer im Gesicht und einen Hut auf dem Kopf, unter dessen Schweißband ein Schnupftuch steckte. Er war nach dem ersten Weltkrieg in die Gegend gezogen und hatte als Schachtmeister gearbeitet, als Oskar von Miller das Walchenseekraftwerk baute. Er redete wenig, seine Hände waren so gefühllos, daß er damit Wespen zerdrückte, die Ärmel seiner kragenlosen Flanellhemden trug er zugeknöpft und darüber eine Weste. Als der Keller ausgehoben war, wuchsen Bimssteinwände hoch. Da konnte man dann schon die Zimmer sehen.
»Das wird das Wohnzimmer«, sagte meine Mutter, »das die Küche und das wird euer Zimmer. Oben drüber vermieten wir und von der Miete zahlen wir die Zinsen.«
Wir stiegen über Bretter und aus den Betonfundamenten ragte Baustahlgewebe. Wenn es Abend wurde, kam mein Vater mit der Adler den Müllfuhrenweg entlanggeknattert und setzte die Bimssteine aufeinander, die mein Großvater aufs Gerüst gestapelt hatte. Dann pfiff in Benediktbeuern der Zug. Wir fuhren zurück nach Kochel und mit dem letzten Bus nach Kesselberg. Meine Mutter nähte Vorhänge mit roten Herzchen und sagte, daß wir ein eigenes Haus haben würden. Sie erzählte es Frau Miele und Frau Zislow, Frau Hase und Fräulein Rosemarie, die jetzt ein Kind hatte und keinen Mann.
»Wenn wir das Haus haben, pflanz ich im Garten Gemüse, Salat und Kartoffeln. Und Apfelbäume und Johannisbeersträucher. Und zwischen die Beete kommt eine Wiese fürs Heu für die Hasen. Da brauchen wir nicht mehr viel einkaufen. Wir haben Gemüse frisch aus dem Garten, und am Sonntag gibt’s Hasenbraten.«
Im Schlafzimmer schnupperte sie am Parfümflakon und sagte: »Vielleicht ist es doch gut, daß ich nicht nach Wien bin.«
An einem Sonntag gab sie mir die Kerze.
»Der liebe Gott«, sagte sie, »kommt um neun ins Altenheim. Da klingelst du und fragst, ob du in die Kapelle gehen darfst. Wenn der Kaplan mit der Messe fertig ist, gibst du ihm die Kerze. Der soll sie weihen, damit du nicht im See ersäufst.«
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