Название: Der Mann, der aus dem Fenster sprang
Автор: Ludwig Lugmeier
Издательство: Bookwire
Жанр: Зарубежная психология
isbn: 9783956140167
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»Mit dem Russengürtel?«
»Der hat im Schrank gehängt. Jetzt ist gleich Mittag. Dalli dalli!«
»Den hast einem Russen weggenommen.«
»Der hat ihn nicht mehr gebraucht.«
»Onkel Willi hat die Sau geklaut.«
»Hat das die Hexe gesagt?«
»Ja.«
»Wenn du auf den Müllhaufen rumkriechst, stinkst du genauso wie sie.«
Er schnupperte an meinem Ärmel.
»Dalli dalli«, sagte er, »die Sau hat einem Bauern gehört, darum hab ich sie nicht genommen.«
»Oma hat gesagt, du hast Schiß gehabt.«
Er gab keine Antwort, aber seine Glatze wurde weiß.
Der Russengürtel war braun und hatte eine Messingschnalle mit einem dicken Dorn. Mein Vater bohrte mit einer Ahle ein zusätzliches Loch in den Riemen und schnallte ihn mir um. Er zog ihn richtig fest und legte das Fotoalbum auf den Tisch. Da war mein Großvater mit einer Schaufel in der Hand, als er das Walchenseekraftwerk baute. Und mein Vater, als er klein war und in die Schule ging. Er trug die Pimpfenkluft mit kurzer Hose, Koppel und Dolch an der Seite. Hinter ihm hing eine Hakenkreuzfahne. Die Bilder waren vergilbt und hatten Zackenränder. Unter einem Weihnachtsbaum saßen Soldaten und auf dem Tisch standen Weinflaschen. Die Soldaten lachten. In Rußland ging es lustig zu und friedlich. Da standen Soldaten vor einem Holzhaus und legten sich die Arme um die Schultern. Nur der Himmel darüber war gelb. Der Russe mit dem Gürtel war nicht dabei. Aber vielleicht war er auf einem der Bilder gewesen, die jetzt fehlten. Von ihnen waren nur ein paar weiße Leimstellen auf dem schwarzen Papier geblieben.
»Hast du den Russen erschossen?« fragte ich.
Meine Mutter klapperte mit den Töpfen.
»Dein Vater war nur ein kleiner Gefreiter«, mischte sie sich ein.
Mein Vater beugte sich über das Fotoalbum.
»Was für einen? Das ist kein Russe.«
»Den mit dem Gürtel.«
»Der hat sich die Hose mit Bindfaden zusammengebunden«, sagte er.
»Im Krieg ist viel geschossen worden«, sagte meine Mutter, »das weißt du doch.«
»Einmal hab ich geschossen«, sagte er. »Da ist einer umgefallen. Aber vielleicht hat ihn eine andere Kugel getroffen.«
»In den Kartoffelsalat schneide ich eine Gurke rein«, sagte meine Mutter.
»Das weiß heute keiner mehr genau«, sagte mein Vater.
»Da sind tausend Kugeln geflogen«, sagte meine Mutter.
Ich hockte mich unter den Tisch. Der Russengürtel hinderte das Blut daran, in die Beine zu sacken. Es schoß in den Kopf und immer wenn das Herz dreimal gepumpt hatte, sah ich ein anderes Bild. Der Russe stand in der Tür und hielt sich die Hose fest. Dann schoß mein Vater, peng! peng!, und der Russe blieb stehen, weil er nicht wußte, wer ihn totgeschossen hatte. Erst schaute er nach links, dann nach rechts. Dann fiel er, plumps – fällt er in den Graben, fressen ihn die Raben –, um und war richtig tot.
»Peng! Peng!«, sagte ich.
Ich rannte zur Tür.
»Peng! Peng! Peng!«
»Du hast den Russen erschossen und ihm den Gürtel weggenommen«, sagte ich. »Peng! Peng!«
Wieder wurde seine Glatze weiß und ich setzte mich auf die Bank und sagte nichts mehr, weil ich Angst hatte, daß er mir eine schmieren und daß mir dann das Blut aus der Nase schießen würde wie Gusti, als er das Essen gemanscht hatte.
Das Hochzeitsfoto meiner Eltern hing im Schlafzimmer neben der Tür. Meine Mutter trug ein dunkles Kostüm und hielt einen Strauß rote Rosen in der Hand. Ihr Haar war schwarz und sie lächelte. Mein Vater trug einen dunklen Anzug mit breitem Revers. Sein Gesicht war hager und die Geheimratsecken hatten sich schon weit vorgefressen.
»1947 war das«, sagte meine Mutter. »Zwei Jahre später bist du gekommen. Da, in dem Bett, mitten in der Nacht. Überm Kochelsee ist gerade ein Gewitter niedergegangen.«
»Dann hast du die Möbel gekauft«, sagte ich.
»Wie ich bei den Amis war. Da war einer, der hat John geheißen, und das war ein Schwarzer und der wollte, daß ich mit ihm nach Amerika geh. Er hat mir Zigaretten gegeben. Für den Schrank hab ich zwei Schachteln gezahlt. Der ist aus Mahagoni. Und für die Betten auch. Für die Kredenz und den Tisch und die Stühle hab ich acht Schachteln gezahlt. Die hat ein Schreiner mit der Hand geschnitzt. Wie ich bei den Amis war, wollten alle Zigaretten von mir. Aber dann ist John nach Amerika gekommen. Von einem Tag auf den anderen. Er hat mir jede Woche einen Brief geschrieben und immer fünf Dollar reingelegt.«
»Darum läuft uns der Unenkel nach.«
»Weil er neidisch ist. Bei ihm stehen nur Margarinekisten. Die Kinder schlafen zu zweit im Bett und am Sonntag essen sie Linsen. Deswegen stinkt’s im Klo so. Und im Schlafzimmer hängt der Hitler an der Wand.«
Ich hatte Angst vor dem Unenkel. Wenn ich ihm begegnete, drückte ich mich an die Wand und hoffte, daß er mich nicht sah. Manchmal verfolgte er uns, wenn wir nach Kochel gingen. Er lief zwanzig Schritte hinterher und schrie »Hur! Du Hur!« und meine Mutter blieb stehen und schrie zurück. Dann holte sie einen Knüppel aus dem Unterholz, ging ihm entgegen und er lief davon. Wenn sie umdrehte, kam er wieder näher und schrie weiter.
»Komm nur«, rief sie, »komm nur her!«
Sie hielt den Knüppel in der Hand und ging ihm entgegen.
Jetzt wich er nur noch ein paar Schritte zurück.
»Ich weiß schon, was du willst!«
»Hur«, fauchte er. »Du Hur!«
Da warf sie den Knüppel weg und lachte. Sie stemmte die Hände in die Hüfte und als er näher kam, hob sie den Rock, zog die Unterhose runter und zeigte ihm den Arsch. Da rannte er, rannte, rannte, als wäre der Knüppel aus dem Sack hinter ihm her, und ich lachte. Wir zogen weiter am See entlang und die Pedale drehten sich.
»Wie er gerannt ist«, sagte sie. »Hast du gesehen, wie er gerannt ist?«
Sie zog den Finkberg hoch, ohne stehenzubleiben.
»Gerannt ist er«, sagte sie zur Frau im Konsum, »als wäre der Teufel hinter ihm her. Ich hab den Rock hochgehoben. Da ist er gelaufen«, sagte sie zur Frau in der Molkerei, »den hätten Sie sehen sollen. Der soll mir nur nahekommen.«
Unenkel hatte ein braungelbes Gesicht, die Haare waren grau und das linke Auge auch. Ich drückte mich an die Wand, als er den Flur entlang kam. Er redete mit sich selbst, wurde immer größer und verschwand dann hinter der Tür schräg gegenüber unserer, aber im Hof kam er wieder hinter der Scheune hervor. Und als ich ums Haus lief und mich unter der Tenne versteckte, da wartete СКАЧАТЬ