Название: Das Antikrebs-Buch
Автор: David Servan-Schreiber
Издательство: Bookwire
Жанр: Медицина
isbn: 9783956140839
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Tatsächlich fürchtete ich mich so sehr davor, meiner Familie von meiner Krankheit zu erzählen, dass ich es immer wieder hinausschob. Ich war in Pittsburgh, meine Familie in Paris. Die Nachricht war für sie mit Sicherheit ein Schock, und mit diesem Schock mussten sie dann leben. Zuerst sprach ich mit meinen drei Brüdern, einem nach dem anderen. Zu meiner ungeheuren Erleichterung reagierten sie auf eine einfache, direkte Art. Sie wurden nicht panisch; sie versuchten nicht, mich oder sich mit ungeschickten Phrasen zu beruhigen. Sie sagten nicht: »Das ist nicht so schlimm. Du wirst es schon überstehen.« Abgedroschene Worte, die ermutigend klingen sollen, aber von jedem gefürchtet werden, der sich fragt, welche Überlebenschancen er hat. Meine Brüder fanden die richtigen Worte, verliehen ihrem Schmerz Ausdruck, zeigten mir, dass sie Anteil an dem nahmen, was ich durchmachen musste, und dass sie mir beistehen wollten. Und das war es, was ich wirklich brauchte.
Als ich meine Eltern anrief, hatte ich trotz der »Vorübungen« mit meinen Brüdern keine Ahnung, wie ich ihnen die schlechte Nachricht beibringen sollte. Ich hatte schreckliche Angst. Meine Mutter war in Zeiten der Not stets eine Quelle der Stärke, doch mein Vater war alt geworden, und ich spürte seine Verwundbarkeit. Obwohl ich damals noch kein Kind hatte, wusste ich, dass es viel schmerzlicher sein kann, von der Krankheit eines Kindes zu erfahren als von der eigenen.
Als mein Vater auf der anderen Seite des Atlantiks den Hörer abhob, konnte ich hören, wie er sich über meinen Anruf freute. Das Herz wurde mir schwer. Ich hatte das Gefühl, ich würde ihm einen Dolch in die Brust stoßen. Schritt für Schritt befolgte ich die Regeln, die ich meinen Kollegen beigebracht hatte: Zuerst soll man einfach die Fakten darlegen, ohne Drumherumreden: »Papa, ich habe Krebs, einen Gehirntumor. Alle Untersuchungen bestätigen das. Es ist ziemlich ernst, aber nicht die schlimmste Form. Es bestehen gute Aussichten, dass ich noch einige Jahre weiterleben werde und dass das Leiden nicht zu schlimm sein wird.«
Und dann soll man warten. Man soll die entstandene Pause nicht mit leeren Phrasen füllen. Mein Vater räusperte sich, als ob es ihm die Kehle zuschnüren würde. »Oh David, das kann doch nicht …« Wir hatten nicht die Angewohnheit, über solche Themen Witze zu machen. Ich wusste, dass er verstanden hatte. Ich wartete noch ein bisschen, stellte ihn mir an seinem Schreibtisch vor, in der üblichen Haltung, die ich so gut kannte: wie er sich aufrichtete, um das Problem direkt anzugehen, wie er es sein Leben lang getan hatte. Er war nie einer Auseinandersetzung ausgewichen, auch nicht unter schwierigsten Bedingungen. Aber diesmal würde es keinen Kampf geben. Er musste keinen Schlachtplan entwerfen, keinen flammenden Artikel schreiben. Ich ging zu Phase drei über und sprach über konkrete Maßnahmen. »Ich werde einen Chirurgen suchen, der sobald wie möglich operiert. Und je nachdem, was die Ärzte bei der Operation finden, entscheiden wir, ob danach eine Chemotherapie oder eine Bestrahlung kommt.« Er hörte zu, er hatte die Nachricht aufgenommen.
Bald darauf erkannte ich, dass die Krankheit mir die Chance gab, so etwas wie eine neue Identität auszuprobieren, die durchaus auch ihre Vorteile hatte. Ich hatte lange Zeit befürchtet, dass ich die Hoffnungen, die mein Vater in mich setzte, nicht erfüllen konnte. Ich war sein ältester Sohn, und ich wusste, dass er Großes von mir erwartete. Obwohl er es nie so deutlich gesagt hatte, wusste ich, dass er enttäuscht war, weil ich »nur Arzt« geworden war. Er hätte es gern gesehen, wenn ich wie er in die Politik gegangen wäre und vielleicht dort Erfolg gehabt hätte, wo er seinen eigenen Erwartungen nicht gerecht geworden war. Und nun wurde ich mit 30 Jahren schwer krank – die Enttäuschung konnte nicht größer sein. Doch auf einmal spürte ich auch eine gewisse Freiheit. Die Verpflichtung, die mich seit meiner Kindheit belastet hatte, war schlagartig verschwunden. Ich musste nicht mehr Klassenerster sein oder der Beste an der Universität oder auf meinem Forschungsgebiet. Ich war befreit von dem ewigen Wettstreit, musste mich nicht mehr mit anderen messen, meine Fähigkeiten und meinen Intellekt unter Beweis stellen. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, ich könnte die Waffen niederlegen und frei atmen. In jener Woche spielte Anna ein Lied für mich, das mich zu Tränen rührte, als ob ich mein ganzes Leben lang auf diese Worte gewartet hätte:
I’m gonna lay down my heavy load
Down by the riverside
I ain’t gonna study war no more
Gonna lay down my sword and shield
Down by the riverside
Ain’t gonna study war no more …
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