Auch eine Rosine hat noch Saft. Luise Lunow
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Название: Auch eine Rosine hat noch Saft

Автор: Luise Lunow

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783967670073

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СКАЧАТЬ erstaunlichen Geschicklichkeit und großem Einfallsreichtum schafften sie sich trotz ihrer Behinderungen ein glückliches und selbständiges Leben. Später, als sie alt waren und nicht mehr allein für sich sorgen konnten, mussten sie in ein Pflegeheim, aber da es damals in der DDR nur getrennte Heime für Männer und Frauen gab, bekamen sie kein gemeinsames Zimmer, sondern wurden in verschiedenen Häusern untergebracht. Alt und behindert war es ihnen unmöglich, sich gegenseitig zu besuchen, und so wurden sie für das Ende ihres Lebens getrennt. Jeder starb für sich allein – ohne dass sie sich noch einmal wiedersehen konnten.

      Der gelbe Stern

      Mein Großvater war gelernter Gärtner und hat fast sein ganzes Leben lang für die jüdische Familie Pitsch in Neubabelsberg – später hieß es Ufa-Stadt und heute Griebnitzsee – als Privatgärtner gearbeitet, erst bei den Eltern, dann beim Sohn Ernst und dessen junger Frau und den zwei Kindern.

      Die Familie Pitsch hatte eine Textilfabrik in Babelsberg und war mit meinen Großeltern zeitlebens sehr befreundet. Mein Großvater legte die wunderbare, riesige Gartenanlage mit Tennisplatz und Spalierobst an, betreute Haus und Garten und blieb auch bei der Familie, als sie von den Nazis gezwungen wurde, ihr großes Haus abgeben und ins Gartenhaus zu ziehen und ihr Leben von unzähligen Schikanen bedroht wurde. In der Progromnacht im November 1938 wurde Ernst Pitsch verhaftet, sein Auto angesteckt und verbrannt. Mein Großvater erzählte damals aufgeregt, dass selbst die Schulmappe des kleinen Sohnes Werner mit allen Schulbüchern mitverbrannt sei und die Familie von SA-Leuten bedrängt wurde. Meine Tante Alice fuhr daraufhin stundenlang mit seiner Frau und den beiden Kindern mit dem Fahrrad durch den Wald, um sie vor weiteren Übergriffen zu schützen. Familie Pitsch hatte zu der Zeit bereits ein Visum, eine Ausreisegenehmigung mit dem Schiff nach Australien und die Schiffspassage war schon gebucht. Dem unerschrockenen und geradezu hochstablerischen Einsatz von Luise Brandt, die gerade das Gartenhaus von Familie Pitsch zu einem normalen Preis gekauft hatte – was bei jüdischen Immobilien zu dieser Zeit absolut nicht selbstverständlich war –, und ihren guten Verbindungen zu höchsten Naziverant­wortlichen ist es zu verdanken, dass Ernst Pitsch noch aus dem Konzentrationslager auf das Schiff gebracht werden konnte und so mit der ganzen Familie, mit Frau Gerda und den Kindern Aenne und Werner in Australien überlebte. Sofort nach Ende des Krieges nahmen sie die Verbindung zu meinen Großeltern wieder auf, schrieben viele Briefe und schickten trotz ihrer eigenen schwierigen Situation einige liebevoll gepackte Pakete.

      Die Eltern von Ernst und Gerda Pitsch hatten sich aufgrund ihres Alters nicht mehr zur Emigration entschließen können, wurden ins KZ Theresienstadt gebracht und sind in der Gaskammer umgekommen.

      Übrigens war Aenne ein bildhübsches, blondes, völlig »arisch« aussehendes Mädchen, das einem Fotografen, der sie auf der Straße fotografierte und nichtsahnend als deutsches Mädchen in seinem Schaufenster in Babelsberg ausstellte, erheblichen Ärger einbrachte. Aenne und Werner leben noch heute mit ihren Familien in Sydney und mein Kontakt zu Aenne ist sehr eng geblieben. Jedes Jahr kommt sie nach Deutschland und besucht uns in Berlin.

      Auch Günter Thomas Meyer, ein naher Verwandter der Familie, der damals im Haus neben meinen Großeltern wohnte und dessen gesamte Familie ebenfalls beim Holocaust ermordet wurde, überlebte als Dirigent in Amerika und dirigierte Anfang der achtziger Jahre ein Konzert in Ostberlin mit dem Sinfonieorchester Berlin, zu dem er mich und meinen Mann einlud. Es war der Beginn einer engen Freundschaft bis zu seinem Tode im Jahre 2004.

      Etwa 1940 sah ich übrigens zum ersten Male bewusst zwei junge Frauen mit dem gelben Stern auf der Brust. Ich weiß es noch genau, ich war auf dem Weg zu meiner Tante Alice, als ich im »Hasensprung« den zwei Frauen begegnete und ihr anschließend aufgeregt davon berichtete. Zu dieser Zeit lebten noch viele jüdische Familien im reichen Grunewald, deren Leben in dieser Zeit besonders bedroht war, und auf meine aufgeregten Fragen erzählte mir meine Tante mehr über das Schicksal und gefährdete Leben von Juden in dieser Zeit. Nach dem Krieg hat mich der Defa-Film »Ehe im Schatten« von Kurt Maetzig mit Ilse Steppat und Paul Klinger in den Hauptrollen tief beeindruckt. Ich habe ihn mindestens zehnmal gesehen und er hat mich immer an diese Begegnung erinnert. Ich habe oft darüber nachgedacht, welches Schicksal diese beiden unbekannten Frauen wohl erlitten haben. Auch das Gleis 17 auf dem Bahnhof Grunewald, von dem aus von 1941 bis 1945 über 50.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder in die Vernichtungslager geschickt wurden, erinnert mich immer wieder an das grausame Schicksal dieser Menschen in der Nazizeit.

      Ungefähr 1949 geriet ich als ganz junges Mädchen durch Zufall in eine Lesung von »Korczak und seine Kinder« mit Ilse Steppat in einem Saal in der Fasanenstraße in Berlin. Ich hatte auf einem Plakat von dieser Lesung erfahren und saß nun allein zwischen all den Menschen im Saal, die sich alle zu kennen schienen und sich sehr emotional umarmten und begrüßten. Ich glaube, ich war in eine Veranstaltung der jüdischen Gemeinde geraten, hinter mir saßen Arthur Brauner und seine bildhübsche junge Frau Maria. Ich glaube, fast alle in diesem Saal hatten nahe Angehörige, Eltern, Kinder, Geschwister oder Freunde in den Vernichtungslagern verloren. Bei »Korczak und seine Kinder« geht es um den Weg von jüdischen Kindern in die Gaskammer, auf dem ihr Lehrer sie begleitet. Mit kleinen Geschichten versucht er sie von der schrecklichen Realität abzulenken und ihnen ihre Angst zu nehmen. Es ist eine unglaublich erschütternde Erzählung, die im Saal unter all den betroffenen Menschen eine tiefe Trauer und Verzweiflung hervorrief; alle weinten und ihr verzweifeltes Schluchzen habe ich nie vergessen können. Durch diesen Abend begriff ich zum ersten Mal bewusst viel von dem Leid und der unfassbaren Grausamkeit gegen jüdische Menschen in Nazideutschland.

      Geborgenheit

      Ich muss noch etwas über die Eltern meiner Mutter erzählen, die mein Leben prägten und bei denen ich einen großen Teil meiner Kindheit und Jugend verbrachte.

      Mein Großvater war ein Mann mit eisernen Prinzipien: Täglich um 7 Uhr begann er als Gärtner bei der Familie Pitsch mit der Arbeit, um 11.40 Uhr machte er Mittagspause, Punkt 12 Uhr saß er zu Hause am Mittagstisch, 10 Minuten nach 12 Uhr war er mit dem Essen fertig, 10 Minuten ruhte er auf dem Sofa, 5 Minuten vor halb 1 Uhr fuhr seine Bahn zurück und pünktlich um 12.40 Uhr begann er wieder mit der Arbeit. Er sprach wenig, liebte seine Ruhe und Behaglichkeit und ließ sich rundum von meiner Oma verwöhnen.

      Übrigens, während die Familie Pitsch im Sommer im Urlaub war, wohnte einmal eine Familie aus der japanischen Botschaft in ihrem Haus, die eine kleine Tochter in meinem Alter hatte. Mein Großvater wurde gebeten, mich täglich als Spielgefährtin für die kleine Yoshi mitzubringen. Ich war so vier oder fünf Jahre alt und wir spielten wunderbar zusammen, fuhren die Katze im Puppenwagen spazieren, malten und hatten jeden Nachmittag eine Stunde Akrobatik mit einer extra dafür ins Haus kommenden Lehrerin. Ich fand alles aufregend schön. Zu Mittag aßen wir meist auf der Terrasse Gerichte, die ich nicht kannte, aber die ich neugierig probierte. Einmal gab es leckere Eierkuchen, als sich plötzlich eine Biene auf Yoshis Eierkuchen setzte; sie wurde vertrieben, aber sofort wanderte der gesamte Eierkuchen in den Müll und ein neuer wurde serviert. Ich konnte es nicht fassen, der ganze wunder­volle Eierkuchen wurde weggeworfen – nur weil eine Biene davon gekostet hatte! Am Abend erzählte ich es aufgeregt meiner Oma, die kopfschüttelnd sagte, ja, Kind, das ist sehr traurig, denn man hätte den schönen Eierkuchen ruhig weiteressen können – auch wenn genug Geld für viele neue da ist. Und Essen wegzuwerfen, das wäre bei meiner sparsamen Oma nie passiert.

      Sie war stets der Mittelpunkt in unserer Familie, meine über alles geliebte Groß­mutter, meine Oma Luise, deren Namen ich eigentlich als Zweitnamen führe, aber den ich inzwischen in liebevoller Erinnerung an sie zum Erstnamen gewählt habe. Zu ihr ging ich täglich nach der Schule, aß dort zu Mittag, machte meine Schular­beiten am großen Küchentisch, und dann wartete sie oft schon feingemacht mit alter, goldener Halskette und Handtasche auf mich, um zu »verreisen«, das heißt, wir fuhren mit der S-Bahn zu Geburtstagen oder den verschiedensten Anlässen in allen Teilen Berlins und СКАЧАТЬ