Auch eine Rosine hat noch Saft. Luise Lunow
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Название: Auch eine Rosine hat noch Saft

Автор: Luise Lunow

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783967670073

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СКАЧАТЬ als Talisman und waren immer unausgeschlafen.

      Ich erinnere mich noch genau an den 14. April 1945, wenige Tage vor Kriegsende, als ein Luftangriff die alte Garnisonstadt Potsdam zerstörte. Es war ein sonniger und schon warmer Frühlingstag und wir sehnten uns danach, endlich wieder draußen spielen zu dürfen, über die Wiesen zu laufen und ohne Angst vor Fliegeralarm und Bomben in der Nacht schlafen zu können. Aber kurz nach 22 Uhr heulten wieder mal die Sirenen und um 22.39 Uhr begann der große Angriff auf die wunderschöne Stadt Potsdam mit all ihren unersetzlichen Kulturdenkmälern. Innerhalb von nur 20 Minuten luden 724 Flugzeuge der Royal Air Force 1752 Tonnen Spreng- und Brandbomben über der Stadt ab.

      Unser Haus wogte in Wellen auf und ab, wir lagen auf der Erde, die Decke über den Kopf gezogen, Frau Sommer schrie: »meine Betten, meine Betten!!«, die Schorn­steinklappe flog auf, Ruß und Staub drangen heraus, Putz fiel von Decken und Wänden, wir erstickten fast, drückten feuchte Tücher auf unser Gesicht, meine Mutter hielt meine Schwester und mich eng umschlungen, wir alle erwarteten jeden Augenblick das schreckliche Ende. Unerträglich lange erschien uns die Zeit bis die tödlichen Geräusche verebbten und Stille eintrat, Entwarnung … Zitternd schlichen wir vorsichtig aus dem Keller, traten auf der Treppe über zerborstene Fensterscheiben, Kalk und Putz, und waren doch glücklich, dass unser Haus den Angriff überstanden hatte und wir unsere Wohnung im zweiten Stock erreichten. Aus unserem Fenster, das keine Scheiben mehr hatte, sahen wir entsetzt auf die brennende Stadt Potsdam. Qualm und Hitze drangen uns ins Gesicht, wir hörten das knisternde Rauschen der Flammen und dazwischen ständige Explosionen. Alles roch nach Brand und Rauch, grauer Trümmernebel biss uns in Augen, Nase und Mund und machte das Atmen schwer. Aber wir lebten. Mehrere meiner Mitschülerinnen sind bei diesem schreck­lichen Angriff ums Leben gekommen, von Trümmern erschlagen und erstickt oder verbrannt von Phosphorbomben.

      Am nächsten Tag war Potsdam nicht mehr wiederzuerkennen. Die ganze Innen- und Vorstadt war zerstört, die Straßen, durch die ich jeden Tag mit der Straßenbahn zur Schule gefahren war, gab es nicht mehr, das Schloss, den Palast Barberini, das beliebte Café, das schöne alte Theater, in dem ich jedes Jahr das Weihnachtsmärchen gesehen hatte, die Kirchen, alle Häuser am Kanal und am Wilhelmplatz – nur noch rauchende Trümmer. An ausgebrannten Fassaden, die wie schwarze Skelette in den Himmel ragten, standen oft mit Kreide erste Nachrichten: Wir leben Inge, Heinz und Gabi. Oder: Oma Ursel, wo bist Du? Melde Dich, wenn Du lebst – Zeichen für die verzweifelt suchenden Angehörigen.

      Wir liefen vorbei an der zerstörten ehemaligen Tuchfabrik Pitsch in der Wichertsraße in Babelsberg mit den Baracken für die französischen Zwangsarbeiter. Ihnen, wie allen ausländischen Zwangsarbeitern, war es streng verboten, die schützenden Luftschutz­keller aufzusuchen. Jetzt waren die Gebäude zerstört, alles war durch Phosphorbomben verbrannt und überall lagen verkohlte Menschen herum. Sie waren nur noch so groß wie Puppen …

      Mitten im Krieg – etwa 1942 – kam ein Mädchen in unsere Klasse; sie war genauso alt wie wir, wirkte aber viel älter, war voll entwickelt, größer und kräftiger als wir und – hatte eine dunkle Hautfarbe. Sie hatte lange schwarze, glatte Haare und wir nannten sie liebevoll Negerbaby. Sie hieß Helga Schulze und kam mit ihren Eltern aus Brasilien. Ihr Vater hatte dort in der deutschen Botschaft gearbeitet. Sie sprach ein völlig akzentfreies Deutsch und wurde in unserer Klasse trotz ihres exotischen Aussehen sofort voll angenommen – was zu dieser Zeit weitaus ungewöhnlicher war als heute. Sie war sehr beliebt und auch unsere Lehrer begegneten ihr mir großer Freundlichkeit. Etwa zwei Jahre blieb sie bei uns, dann war sie plötzlich weg. Niemand sagte uns, wo sie geblieben war, es hieß, sie sei weggezogen … Ich habe nie wieder etwas von ihr gehört.

      Die ständigen Fliegeralarme hatten mich doch mehr belastet, als meine Eltern zunächst annahmen, besonders nachdem eine schwere Luftmine in unserer unmittelbaren Nähe im Barberow-Weg einschlug und auch drei meiner Spielgefährten unter den Trümmern ihrer Häuser erschlagen wurden. Ich schrie regelmäßig nachts auf und erwachte schweißgebadet und zitternd. Als ich kurz darauf an hohem Fieber erkrankte und meine Mutter für nur wenige Minuten die Wohnung verließ, um einzukaufen, fand sie nach ihrer Rückkehr ein Chaos in unserem Wohnzimmer vor. Ich hatte in Angst- und Fieberträumen alle Stühle auf unserem Wohnzimmertisch zerschlagen und schlief erschöpft auf der Erde. Ich konnte mich später erinnern, dass ich schreiend und in Panik auf ein schwarzes Loch, in das ich hineinzustürzen drohte, verzweifelt eingeschlagen habe. Meine Mutter zog unseren Hausarzt zu Rate, der ihr dringend empfahl mich in ein Gebiet zu bringen, das nicht durch Bombenangriffe belastet war. Und so wurde ich meiner Schulklasse hinterhergeschickt, die gerade zwei Wochen zuvor nach Neu-Schleffin an der pommerschen Ostseeküste evakuiert worden war und zu der meine Eltern für mich noch ihr Einverständnis verweigert hatten. Wegen der Bombengefahr fuhren die Züge mit den Kindertransporten fast immer nachts los. Es war für mich eine schreckliche Fahrt, so mitten in der Nacht mit Schülern einer fremden Schule und einem Schild um den Hals von Umsteigestation zu Umsteigestation geschleust zu werden, bis mich eine Helferin dann noch bei Dunkelheit in der kleinen Ferienvilla Haus Erika ablieferte, in der sich meine Klasse schon seit zwei Wochen befand. Man brachte mich in ein Zimmer mit drei anderen Mädchen, die am Morgen voller Staunen eine fest schlafende Mitbewohnerin vorfanden. Ich hatte keine Schwierigkeit, mich in der neuen, friedlichen Umgebung einzugewöhnen, und fand mein seelisches Gleichgewicht in kurzer Zeit wieder. Meine Albträume verschwanden, und endlich konnte ich ein normales Leben ohne nächt­liche Fliegeralarme führen. Wir hatten vormittags im sonnigen Wintergarten Schul­unterricht, nach dem Mittagessen wurden die Hausaufgaben erledigt und dann ging es an den Strand oder wir machten Spiele mit Traudl und Ruth, Studentinnen, die uns betreuten und die wir sehr liebten. Unsere Lehrer kochten für uns und jeder von uns hatte seine Aufgaben, die alle drei Tage wechselten, vom Küchendienst und Servierdienst bis zur Reinigung der Zimmer. Wir lebten wie eine große Familie und endlich wieder wie normale Kinder ohne ständige Bombenangst. Nach dem halben Jahr an der Ostsee sollte es im Winterhalbjahr eigentlich weiter in ein anderes Lager in den Karpaten gehen. Aber glücklicherweise kam diese Reise nicht mehr zu Stande, denn die Front im Osten rückte nun langsam näher und wir wären vielleicht in den letzten Kriegswirren nicht mehr nach Hause zurückgekommen. So wurden wir im Herbst wieder nach Berlin gebracht, mitten hinein in die Bombennächte.

      Auch der Weg zu meiner Tante in Grunewald wurde nun von immer mehr Ruinen gesäumt, viele der wunderschönen alten Villen waren von Bomben zerstört, die Gärten waren ungepflegt und verwildert, so auch die Villa Hettlage gegenüber den Siedlungshäusern, in denen meine Tante wohnte und in deren Garten ich oft mit den Kindern gespielt hatte.

      Die Russen kommen

      Der harte Winter 1942/43 hatte die Wende im Russland-Krieg mit den Kämpfen um Stalingrad und im Februar 1943 mit dem Fall von Stalingrad und dem Tod oder der Gefangenschaft von hunderttausenden deutscher Soldaten gebracht. Ich erinnere mich an den Tag, als die Nachricht von der Niederlage bei Stalingrad kam und unsere Musiklehrerin Frau Lorenz während des Unterrichts weinend vor unserer Klasse stand; sie hatte gerade die Nachricht erhalten, dass ihr einziger Sohn vor Stalingrad gefallen war.

      1945 kam die Front nun unaufhaltsam näher, die Fähnchen auf unserer Landkarte, die den Verlauf der Front anzeigten, rückten täglich ein Stückchen weiter in Richtung Berlin. Ab Januar zogen bei eisiger Kälte wochenlang endlose Trecks mit Flüchtlingen aus den deutschen Ostgebieten, aus Ostpreußen oder Westpreußen, aus Pommern und Schlesien durch unsere Stadt, meist zu Fuß mit Kinder- oder Handwagen, voll­gepackt mit dem Wenigen, was sie retten und tragen konnten. Die nicht mehr gehfähigen Großeltern und kleineren Kinder saßen oben auf den völlig überfüllten Wagen, die oft genug die Last nicht mehr aushielten und zusammenbrachen. Meist endete ihr Weg am Abend in einer unserer Schulen oder Turnhallen. Wir Kinder sahen voller Staunen auf die erschöpften, ausgehungerten und völlig übermüdeten Menschen, die dann auf Pritschen oder sogar auf der Erde liegend froh waren, sich wenigstens für ein paar Stunden ausruhen zu dürfen, und für die wir zuvor stundenlang Brote geschmiert hatten, bevor sie am nächsten Morgen weiter ins Ungewisse ziehen mussten. Nur wenige hatten das Glück noch СКАЧАТЬ