Auch eine Rosine hat noch Saft. Luise Lunow
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Название: Auch eine Rosine hat noch Saft

Автор: Luise Lunow

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783967670073

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СКАЧАТЬ musste draußen bleiben, und so konnten wir uns über all die Zeit nur durch Winken oder lautes Rufen aus dem Fenster verständigen.

      Als ich wieder zur Schule durfte, hatte ich eine Menge nachzuholen, denn niemand hatte mich in diesen Wochen mit Hausaufgaben versorgt und meine Lehrerin hat nur kühl gesagt, ich müsste mich allein drum kümmern, den Stoff nachzuholen, sie hätte keine Zeit dafür. Glücklicherweise hatte ich eine Mitschülerin, die mir half den Anschluss zu finden, sonst hätte ich es wohl kaum allein geschafft.

      Wie wenig sich unsere damaligen Klassenlehrerinnen um das Wohl der ihnen anvertrauten Schülerinnen kümmerten, bemerkte ich auch am Beispiel einer Mitschülerin, die von der ersten Klasse an ungewaschen und in schmutziger Kleidung in die Klasse kam. Ihr Kopf hatte eine dunkle Dreckkruste, die Haare strähnten und ihr Kleid wurde nie gewaschen, bis es ihr quasi vom Körper fiel. Nie hat eine der Lehrerinnen die Eltern aufgesucht oder die Mutter zu einem Gespräch gebeten, um das an sich intelligente, aber durch ihr Äußeres abstoßende und ausgegrenzte Kind aus ihrer schrecklichen Situation zu befreien. Erst als Inge älter und selbstständiger wurde, hat sie selbst mehr auf ihr Äußeres geachtet und sich und ihre Kleidung selbst gewaschen. Als ich sie einmal nach Hause begleitete, war ich über den Zustand der Wohnung entsetzt, in der sie mit ihren Eltern und drei Geschwistern lebte. Die ungemachten Betten hatten keine Bezüge, sie schliefen alle in den schmutzigen Inletts, die Mutter saß im Zimmer und las oder strickte, während alles um sie herum verdreckt und unaufgeräumt war. Als die Kinder größer wurden und selbst ihre Umwelt wahrnahmen, haben sie alle mitgeholfen, sich und die Wohnung einigermaßen in Ordnung zu halten, aber die körperliche Verwahrlosung ihrer frühen Jahre hatte niemand verhindert.

      Noch eine schreckliche Erinnerung habe ich an Inge und ihre Familie. Ich hatte mir als etwa 8-jährige von meinem Taschengeld zwei weiße Mäuse gekauft, mit dem zur Aufbewahrung geeigneten Glasbehälter und etwas Spielzeug für sie. Ich fütterte die beiden lustigen Mäuse und beobachtete sie voller Freude bei ihrem Spiel mit dem Laufrad. Was ich allerdings nicht bedacht hatte, war, dass sie sich in Windeseile vermehrten und ehe ich mich versah, hatte ich statt der zwei Mäuse zehn, zwanzig, ja, immer mehr kamen hinzu. Meine Mutter sah das mit Sorge und empfahl mir, die Tiere doch auch an Schulfreundinnen zu verschenken. Inge war gleich bereit, die gesamte Mäusefamilie zu übernehmen, und nahm sie freudestrahlend mit nach Hause. Ihr Vater sah die Mäuse, nahm ihr den Behälter aus den Händen und schütte den gesamten Inhalt mit den Tieren in den brennenden Ofen. Weinend erzählte mir Inge am nächsten Tag die Geschichte und mir wird noch heute schlecht, wenn ich an diese schreckliche, grausame Handlung ihres Vaters denke. Obwohl ich ihn kaum kannte, habe ich ihn dafür gehasst.

      Vater

      Mein Vater spielte in meinem Leben leider nur eine untergeordnete Rolle. Ich kann mich nicht erinnern, jemals mit ihm gespielt oder sonst etwas zusammen mit ihm unternommen zu haben – außer, dass wir, als ich noch sehr klein war, ein- oder zweimal mit den Fahrrädern zum Pilze sammeln in den Wald und an den Teufelssee gefahren sind. Er war ja fast meine ganze Kindheit hindurch nicht zu Hause. Gleich am Anfang des Krieges wurde er zur Wehrmacht eingezogen, nach einem Jahr für kurze Zeit reklamiert, weil er als Lackierer in einer kriegswichtigen Fabrik arbeitete, aber dann kam er wieder an die Front, diesmal in Russland, geriet in russische Gefangenschaft und kehrte erst 1948 krank, aufgeschwemmt und völlig verändert nach Hause zurück. Die Ehe mit meiner Mutter, die in den Kriegs- und Nachkriegs­jahren allein für sich und uns Kinder gesorgt hatte, die arbeitete und inzwischen gewohnt war, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, sich nicht mehr unter­zuordnen, wie sie es in den ersten Jahren ihrer Ehe getan hatte, war nicht mehr zu retten und nur wenige Jahre darauf wurde sie geschieden. Ich lebte zu dieser Zeit bereits bei meinen Großeltern und sah meinen Vater nur selten. So blieb er immer ein Fremder für mich und der Kontakt zu ihm war auch später auf wenige Begegnungen beschränkt. Heute weiß ich, wie sehr mir mein Vater in meiner Entwicklung gefehlt hat, wie sehr ich seine Geborgenheit, seine Sicherheit, seine Liebe und seinen Rat gerade als Kind und auch später als Heranwachsende gebraucht hätte. Als er aus der Gefangenschaft nach Hause kam, hatte auch er Hemmungen, auf seine inzwischen fast erwachsenen Töchter zuzugehen, deren Kindheit er durch den Krieg nicht miterleben durfte und die ihm nach seiner Rückkehr als fremde junge Mädchen gegenüberstanden. Besonders als es eine neue Frau in seinem Leben gab, scheute er den Kontakt mit uns; ich hatte den Eindruck, es war ihm peinlich uns seine neue Lebensgefährtin vorzustellen. Er heiratete sie kurz nach der Scheidung von meiner Mutter. Christa war seine große Liebe, eine junge Mitarbeiterin Mitte 20; er war damals Anfang 50. Beide bezogen eine gemeinsame Wohnung, meinem Vater ging es wieder gut, sie waren glücklich und sparten für eine AWG-Neubauwohnung. Seine junge Frau verschwieg ihm aber, dass sie kurz nach der Heirat an Unterleibskrebs erkrankte, verschwieg es ihm aus Liebe bis zuletzt. Erst als sie wenige Tage vor ihrem Tod mit unerträglichen Schmerzen in eine Klinik eingeliefert werden musste, erfuhr mein Vater geschockt, dass seine geliebte Frau sterben würde. Er hat ihren Tod nie überwunden. Kurz darauf war seine AWG-Wohnung bezugsbereit, für die er jahrelang eingezahlt hatte. Sie durfte aber nur mit zwei Personen bezogen werden. Er heiratete also eine flüchtige Bekannte, bezog mit ihr die Wohnung, erkrankte kurz danach ebenfalls an Krebs und starb ungeliebt und vereinsamt in seiner Wohnung. Ich hab ihn während dieser Monate ein paar Mal besucht, aber uns blieb nur noch wenig Zeit Versäumtes nachzuholen – der Krieg mit all seinen Folgen hatte unsere Familie zerstört.

      Meine Mutter

      Meine Mutter hatte in unserer Familie für mich die dominierende Rolle. Sie war meine ganze Kindheit hindurch meine engste Bezugsperson, die mich beschützte, ernährte, die mir die ersten Märchen vorlas und viele selbst erdachte Geschichten erzählte. Die Scheidung von unserem Vater nach vielen Ehejahren, von denen sie allerdings durch Krieg und Gefangenschaft nur wenige miteinander verleben konnten, hat sie nur schwer verkraftet und ihm nie verziehen. Zu hart traf sie die Demütigung, schon bald nach seiner Rückkehr aus Russland wegen einer wesentlich jüngeren Frau verlassen worden zu sein, ohne Anspruch auf irgendeine finanzielle Unterstützung durch ihn – wie es bei Scheidungen in der DDR damals üblich war. Jeder hatte anschließend nur für sich selbst zu sorgen, sogar nach einer lange bestehenden Ehe mit Kindern. Glücklicherweise hatte sie schon früh und in den Kriegsjahren ihr Leben selbst in die Hand genommen. Um für uns Kinder tagsüber da zu sein, trug sie jahrelang frühmorgens Zeitungen aus. Damals musste man die Zeitungen noch bis in die obersten Etagen der mehrstöckigen Häuser bringen, die Briefkästen unten im Hausflur, so wie heute meist üblich, gab es noch nicht. Wie oft habe ich ihr vor der Schule, am Wochenende oder in den Ferien beim Zeitungsaustragen in aller Frühe geholfen. Der schwere Zeitungsberg wurde aufs Fahrrad geladen und dann ging es von Haus zu Haus, treppauf-treppab, immer bis unters Dach der oft vierstöckigen Häuser – das war Schwerarbeit. Viele Jahre später konnte sie dann glücklicherweise einen körperlich leichteren Job bekommen und arbeitete als Kassiererin bei einer großen Firma in Babelsberg.

      Uns Kindern gegenüber war sie immer offen für alles, was wir unternahmen, versuchte unsere Wünsche und Wege zu verstehen und zu unterstützen, auch wenn sie für sie völlig unbekannt waren. Sie war eine wunderbare, äußerst aktive, allem Neuen zugewandte Frau. Aber in dieser für sie sehr kräftezehrenden Zeit des Krieges und der Nachkriegszeit, wo es darum ging, das Lebensnotwendige zu organisieren, blieb wenig Kraft für ihre eigenen Interessen und so auch kaum Zeit, ein Buch zu lesen. Bei uns zu Hause gab es in meiner Kindheit überhaupt nur drei Bücher, die einsam in unserem Schrank standen. Ich erinnere mich an »Drei Männer im Eis«, »Unser Hausarzt« und den »Knigge« – wer weiß, woher sie den hatten –, den ich schon im Alter von acht oder neun Jahren aufmerksam studierte und dabei die Grundbegriffe des menschlichen Miteinander erlernte. Von da an beobachtete ich interessiert, wer wem in den Mantel half, die Tür öffnete und den Vortritt ließ. Ich konnte es nicht erwarten lesen zu lernen, und kaum konnte ich erste Sätze entziffern, stürzte ich mich auf jedes Buch, wurde schnell regelmäßiger Gast in der Leihbücherei und streifte auf eigene Faust quer durch die Weltliteratur. Bücher begannen mich zu faszinieren, ich ver­schlang sie regelrecht. Ich nutzte jede СКАЧАТЬ