Название: Lasst uns über Liebe reden
Автор: Walter Muller
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783701362912
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Was ist Glück? Was heißt: glücklich sein? Für jeden etwas anderes. Der eine ist glücklich über die teuren Geschenke, die er bekommt, zu Weihnachten etwa. Natalie Hoshi war glücklich beim Auspacken der Geschenke. Das Auspacken war ihr wichtiger als der Inhalt.
Das Glücklichsein, wenn man ganz große Karriere gemacht hat, ein stattliches Haus besitzt, kannte Natalie nicht. Sie war glücklich über ihre Arbeit als Hilfskraft im Landeskrankenhaus Salzburg, in der Abteilung für Physikalische Medizin und Rehabilitation. Die kleine Wohnung in der Lanserhofstraße in Maxglan, in der sie die letzten vier Jahre ganz allein gelebt hat, hat sie glücklich gemacht. Und zufrieden und auch stolz. Eigene Arbeit, eigene Wohnung. Ihr eigener Rhythmus, ihr eigenes, eigenständiges Leben. Man kann glücklich sein über einen Millionengewinn beim Glücksspiel. Oder glücklich sein, wenn einem die Patienten, für die man die Therapiebäder perfekt vorbereitet hat, Schokolade schenken, weil sie so zufrieden waren.
Natalie Hoshi muss oft glücklich gewesen sein. Es heißt, wenn man schnell unterwegs ist, beim sehr langen, kilometerweiten Laufen zum Beispiel, werden Glückshormone ausgeschüttet. Natalie Hoshi war in manchem langsamer als die anderen. Vielleicht war sie deshalb glücklicher, zufriedener? Oder anders glücklich, anders zufrieden.
Manche Menschen zeigen ihr Glücklichsein, indem sie alle und jeden umarmen und küssen. Natalie war, könnte man sagen, keine Welt-Umarmerin, aber sie war sehr glücklich, wenn Liam, ihr kleiner Neffe, grad 18 Monate alt, der Bub von Akemi, ihrer Schwester, und deren Mann Sven, die Ärmchen nach ihr ausstreckte, wenn er auf sie zutrippelte und sein Köpfchen in ihren Schoß legte. Liam war der, den sie, wenn er mit seinen Eltern zu Besuch war, umarmen und herzen konnte. Eine einzige Umarmung kann glücklicher machen als alle Freundschaftsküsse dieser Welt.
Ja, Nathalie Hoshi war oft glücklich über das, was wir im Hochmut, in unserer Gedankenlosigkeit, „Kleinigkeiten“ nennen. „Viele Menschen versäumen das kleine Glück, während sie auf das Große vergebens warten“, schreibt Pearl S. Buck, die Literaturnobelpreisträgerin, deren Tochter übrigens seit der Geburt an einer, damals nicht behandelbaren, Erbkrankheit litt.
Natalie Hoshi war eine Lehrmeisterin in Sachen Glück. Der Name Natalie hängt mit Weihnachten zusammen, das sie sehr gemocht hat. Er kommt vom Lateinischen „dies natalis“, also Tag der Geburt; übertragen: der Geburt Christi, Weihnachten. Natalie war sozusagen ein Weihnachtskind, mitten im Sommer geboren.
Als sie das Licht der Welt erblickte, in Tokio, hatte der Vater, Takashi Hoshi, ein weltweit gefragter Maschinenbau-Ingenieur, grad beruflich in Warschau zu tun. Und für das Baby war noch kein offizieller Name ausgesucht. Die Mama sagte Natalie zum Töchterchen. Die Japaner fanden diesen Namen wunderschön. Als der Vater von der Europa-Reise nach Tokio zurückkam, nannten sie bereits alle Verwandten und Familienfreunde Natalie. Dabei blieb es, bis heute.
Geboren wird Natalie Hoshi an einem Glückstag. Der 7.7. ist ein ganz besonderer Tag in Japan. Ein Festtag. Da wird Jahr für Jahr das Tanabata-Fest gefeiert. Kinder, die an diesem Tag zur Welt kommen, werden Glückskinder genannt. Das hat mit einer schönen Legende, der Sternenlegende zu tun. Der Geschichte der Prinzessin Orihime, Tochter des Himmelsgottes, die eine fleißige Weberin ist. Vor lauter Arbeiten ist es ihr nicht möglich, einen Mann an ihrer Seite zu finden. Da schickt ihr der Vater den Rinderhirten Hikoboshi und vermählt die beiden. Orihime und Hikoboshi entflammen sofort in großer Liebe. Ja, sie lieben einander so sehr, dass sie darüber vollkommen die Arbeit vergessen. Der Vater, der Himmelsgott, bekommt keine von seiner Tochter gemachten Kleider mehr. Und die Rinder seines Schwiegersohnes werden krank. Da erzürnt der Gott und verbannt mit seinen magischen Kräften den Hirten auf die andere Seite der Milchstraße. Und nur einmal im Jahr dürfen hinfort die Liebenden einander begegnen, an Tanabata, am 7. Juli, an dem der Legende nach die Sterne Altair und Wega sich am Nachthimmel treffen.
An diesem Tag werden in Japan poetische Wünsche auf bunte Papierstreifen geschrieben und an Bambusstangen befestigt, in der Hoffnung, dass sie in Erfüllung gehen.
Natalie Hoshi ist an einem Tanabata-Tag geboren, als erstes Kind von Takashi und Annemarie Hoshi. Die Mutter stammt aus Ostpreußen, der Vater aus Japan. Sie lernen einander in Düsseldorf kennen, bei der Arbeit. Der Maschinenbau-Ingenieur muss, für die japanische Firma Mitsui, später dann für Sony, oft seinen Wohnort, seine Lebensadresse wechseln. Geheiratet wird in Düsseldorf, aber dann geht es für vier Jahre nach Tokio. Und jetzt gehört also Natalie zu ihnen.
Bald führt die Lebensreise zurück nach Düsseldorf, wo zwei Jahre nach Natalie das zweite Mädchen, Akemi, das Licht der Welt erblickt. Dann Wien für zehn Jahre, schließlich Salzburg. Die kleine Familie Hoshi ist immer dort daheim, wo der Vater zu arbeiten hat.
In Wien lebt man in Mauer, im 23. Bezirk. Ganz in der Nähe befindet sich der Waldorfkindergarten. Hier fühlt sich Natalie wohl, findet Freunde, ist bei den Spielen und Späßen mit dabei. Sie ist kleiner als die anderen Kinder, aber das macht nichts. Sie ist ein bisschen langsamer. Das macht nichts. In Wien, auch dann in der Waldorfschule, ist das kein Problem. Natalie erlernt ein Instrument – die Leier. Die kleine Schwester, Akemi, spielt Geige.
Ach, Weihnachten ist immer so schön. Erst die Geige, dann die Leier. Das Weihnachtsevangelium, von der Mama gelesen, der Christbaum. Das Auspacken der Geschenke. Die Wiener Jahre sind eine unbeschwerte Zeit. In der Schule eine tolle Lehrerin, fröhliche, nette Mitschüler. In der Freizeit alles, was Spaß macht: Schwimmen, Radfahren, im Winter Skifahren. Mit der Schwester im Garten herumtollen. Ein bisschen langsamer, aber darauf kommt es nicht an. Niemandem.
In Salzburg, so scheint es, kommt es darauf an. Keine so aufmerksame Lehrerin mehr, keine so fröhlichen, netten Mitschüler. Oder nur wenige. Nur weil sie, die Natalie, ein bisschen anders ist, ein bisschen langsamer? In Salzburg gibt es eine Diagnose für dieses Anderssein. Die lautet „Turner-Syndrom“, eine Chromosomen-Besonderheit. Damit wird man geboren. Jedes 2.500-ste Mädchen wird damit geboren. Auch wenn man an Tanabata zur Welt gekommen ist.
Jetzt ist das Mädchen 13 und es heißt: Mit diesem Syndrom kann man gut leben. Ein bisschen was ist anders, manche Entwicklung stellt sich zeitverzögert ein. Darauf kommt es nicht an. Vielen schon. Vor allem Mitschülerinnen und Mitschülern, die grad mitten in der Pubertät stecken, mit allem, was dazugehört.
Bei Natalie ist die Pubertät nicht ausgebrochen. Jetzt reden die anderen von ach so wichtigen Dingen, die ihr nicht vertraut sind. Mopedfahren, Tanzen, heiße Partys, Flirten. Da kann, da will sie nicht mitreden, nicht mitmachen. Um die Kleine, die Langsame kümmern sich nur einige aus der Klasse. Die Schule bringt sie trotzdem bis zum Abschluss hinter sich. Die Familie kümmert sich umso mehr. Die Mutter, die Schwester, die ihre Natalie im Haus in Parsch beschützen, behüten, umsorgen.
Das Mädchen hat vieles, was andere nicht haben. Natalie ist äußerst gewissenhaft, vergisst nie etwas. Wenn man ihr sagt: „Weck mich um viertel nach sechs in der Früh“, weckt sie einen um viertel nach sechs in der Früh. Sie merkt sich alle Daten, alle Geburtstage. Man kann sich auf sie voll und ganz verlassen. Sie ist pünktlich, manchmal – nicht immer zur Freude der anderen, ihrer Schwester zum Beispiel – über-überpünktlich.
Nach der Schule die Familien-Überlegungen, welchen Beruf Natalie ergreifen könnte: Was kann sie machen? Wo wird sie akzeptiert? Was will sie selbst? „Weiß ich nicht“, sagt sie auf die letzte Frage. Die Mutter schickt sie auf berufsorientierte Jugendseminare in Deutschland. Massage wäre eine Möglichkeit, vor allem, als eine Ausbildnerin meint: „Die Natalie hat schöne, energiestarke Hände.“ Sie lässt sich in diversen Massagetechniken ausbilden, auch in Shiatsu-Therapie, massiert eine Zeit lang im Bekanntenkreis. Aber, auch das ein Symptom ihrer Erkrankung, sie scheut Körperkontakt, Berührungen sind ihr nie wirklich angenehm. Umarmungen auch nicht.
Natalie Hoshi СКАЧАТЬ