Gegenwindschiff. Jaan Kross
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Читать онлайн книгу Gegenwindschiff - Jaan Kross страница 12

Название: Gegenwindschiff

Автор: Jaan Kross

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783955102630

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СКАЧАТЬ erkannten ihn sofort an der fehlenden rechten Hand, und Vater ging zu seinem Tisch, um sich vorzustellen.«

      »Herr Kelter – wie war Ihr erster Eindruck von Schmidt?«

      »Nun, er wirkte jünger, als er war. Er war damals immerhin schon über fünfundvierzig Jahre alt, aber ich hätte ihn auf unter vierzig geschätzt. Weil er so dünn war und in gewisser Weise durchsichtig. Wie ein, sagen wir, Tuberkulosekranker. Obwohl er meines Wissens nicht an dieser Krankheit litt. Und sein Gesicht, würde ich sagen, war das Gesicht des Menschen, der er war – ein störrisches Landei, das sich als Intellektueller gerierte. Blass, ausgeprägte Wangenknochen. Ein skeptischer, vielleicht sogar einfühlsamer Mund. Ein kleiner rötlicher Schnauzer. Kurz geschorenes, kastanienfarbenes Haar. Eine spitze, dreieckige Nase. Graue, vergleichsweise tiefliegende und doch irgendwie hervorstechende Augen mit einem starren Blick. Dünne Brauen. Aber die Brauen eines Menschen, mit dem zu diskutieren nicht angenehm ist.«

      »Herr Kelter – ich muss sagen, Sie sind ein wahrer Gedächtnisfotograf. All das auf Grundlage von ein, zwei Begegnungen …«

      »Nun, wissen Sie, ich habe sein Foto oft genug sehen. Im Büro meines Vaters hingen all die Fraunhofers, Abbes, und wie sie heißen, in einer Reihe an der Wand. Und später auch Schmidt. Aber was ich noch sagen wollte: Dass er sich angeblich nicht um sein Äußeres scherte, ist nicht ganz korrekt. Zumindest meinem Eindruck nach. Und auch dem Foto nach. Obwohl man sich für ein Foto gewöhnlich herausputzt. Aber ich glaube nicht, dass Schmidt sich besonders herausgeputzt hätte. Denn ich spreche aus meinen Erinnerungen. Ich würde wetten, dass er direkt von der Arbeit zu Bretschneider gekommen ist. Sein Anzug war natürlich weder neu noch fein. Das stimmt. Ein billiger grauer Anzug von der Stange. Ein wenig verstaubt, offensichtlich vom Glasschleifen, und stark verknittert. In manchen Erinnerungen war von seiner Bügelfalte die Rede, soll heißen, von deren Nichtvorhandensein. Die Hosen schlackerten ihm stets um die Beine. Aber das war zumindest in Mittweida nicht so wild. Vielleicht deshalb, weil es da eine Frau in seiner Nähe gab. Aber was ich sagen wollte: Seine Kleidung hatte, wenn man so will, zwei Elemente proletarischer Eleganz, die einem unmittelbar ins Auge stachen. Er trug eine billige gestrickte Krawatte zu einem blütenweißen Hemd mit einem steifen Kragen. Und seine Schuhe waren trotz des scheußlichen Aprilwetters tipptopp poliert.«

      Herr Kelter hebt mit der rechten Hand sein Glas und führt sich den Strohhalm in den Mund. Dann fällt ihm noch ein Detail ein, offenbar hat ihn der Titel des Gedächtnisfotografen angespornt. Er hebt den Zeigefinger seiner Linken und nimmt den Strohhalm aus dem Mund:

      »Und nebenbei: Er hatte eine Kragenweite von neununddreißig, würde ich sagen, aber das weiße Hemd, von dem ich sprach, hatte einundvierzig oder sogar zweiundvierzig. Hahaha.«

      »Herr Kelter – erinnern Sie sich an seine Hand? Sie gaben ihm doch die Hand?«

      »Ja. Hören Sie, das war ziemlich hakelig. Wie jeder Handschlag zwischen links und rechts.«

      »Und weiter? Sie haben sicher besonders auf den Handdruck geachtet. Schließlich hatte er ja eine außergewöhnliche Hand – für jemanden mit Ihrem Fachwissen?«

      »Ach, hören Sie, ich sage Ihnen gleich, dass ich nichts davon halte, Schmidt zu mythologisieren. Auch jetzt nicht, wo andere dies tun. Und noch weniger habe ich davon gehalten zu der Zeit, als der Mythos noch gar nicht existierte. Und ich selbst ein junger Mann war im, wie soll ich sagen, denkbar unmythologischsten Alter. Weshalb mir nichts Besonderes auffiel. Eine gewöhnliche, eher zierliche und nervöse Hand. Soweit ich mich erinnere. Ja … Womöglich hatte ich den Eindruck, dass seine Hand sensibel und ausgesprochen dünnhäutig war. Aber das wäre nur mehr als verständlich gewesen.«

      »Wie verlief Ihre Unterhaltung?«

      »Wie gesagt, mein Vater stellte sich vor, und sprach davon, dass wir eigens nach Mittweida gekommen seien, um ihn zu treffen, und bat um Erlaubnis, an seinem Tisch Platz zu nehmen. Die Erlaubnis bekam er. Nicht mit übermäßigem Respekt, aber dennoch. Er hatte ein halb volles Schnapsglas und einen Aschenbecher mit einer halben Zigarre vor sich. Vater fragte, was er ihm bestellen dürfe. Er spreizte die Finger in der Luft und wies das Angebot zurück. Für ihn – nichts. Übrigens gestikulierte er mit seiner einzigen Hand deutlich mehr, als man in Anbetracht seiner Wortkargheit erwartet hätte. Vater fragte, ob er auch ein vegetarisches Hors-d’œuvre ablehnen würde. Das tat er. Vater fragte, was er trank, und bestellte zum Abendessen eine Flasche Korn. Obwohl er sonst nie Korn trank. Schmidt ließ sich von Vater aus unserer Flasche nachgießen. Und dann begann Vater sein Gespräch mit Schmidt.«

      »Aber zuvor noch eines, Herr Kelter, sagen Sie: Was veranlasste Ihren Vater dazu, mit Schmidt Kontakt aufzunehmen?«

      »Neugier. In erster Linie. Mein Vater konnte nicht glauben, was man sich über Schmidt erzählte. Dass die außerordentlich präzisen Geräte, die er für Potsdam und anderswo angefertigt hatte, mit den primitivsten Mitteln hergestellt worden waren. Dazu noch von einem einhändigen Mann. Als Werkzeug benutzte er Gerüchten zufolge irgendwelche Kuriositäten aus Holz und Blech, die er sich selbst zusammengebastelt hatte. Außerdem eine alte Drehbank mit Pedalantrieb. Sowie Glasstücke und Lappen aus Sämischleder. Aber die Präzision seiner Arbeit war, hm, fast die gleiche, wie bei unseren brandneuen Bänken von Kärger.«

      »So gut? Oder vielleicht noch besser?«

      »Hmmmm … Wissen Sie, mal so, mal so.«

      »Und worüber haben Sie sich damals unterhalten?«

      »Nun, mein Vater war aufgrund seiner Lebenserfahrung in den verschiedensten Annäherungsmethoden zu Hause. Und er verfügte auch über eine gewisse Menschenkenntnis. Aber bei Sonderlingen hatte all das keinen großen Nutzen. Und ich will meinen Vater auch nicht idealisieren. Es kam auch vor, dass er sich bei der Wahl seiner Annäherungsmethode mal vergriff. Sich auf nicht überprüfte Informationen stützte. In der Vorstellung, dass er sich ein gewisses Maß an Improvisation erlauben könnte, da ihm das psychologische Gespür des erfahrenen Redners zu Gebote stand. Im Fall von Schmidt nahm er offenbar an, dass man einen Provinziellen nicht bedrängen, nicht mit der Tür ins Haus fallen dürfe, wie es so schön heißt. Um Vertrauen zu gewinnen, muss man nach alter Manier einen Bogen schlagen, also fing er damit an, dass wir, die Familie Kelter, auch in gewisser Weise Deutschbalten seien. Haha. Hoffentlich konnte ich schon mit zwanzig eine unbewegte Miene aufsetzen. Damit Schmidt meine Überraschung nicht bemerkte. Denn alle Kelters stammten aus Brandenburg und mit den Balten hatten wir nicht mehr gemeinsam, als dass eine von Vaters Tanten mit einem kurländischen Forstmeister verheiratet war und ihr Leben in Mitau verbrachte. Vater konnte das Thema unserer baltischen Wurzeln nicht weiter ausführen, denn Schmidt blies ihm Zigarrenrauch ins Gesicht – ohne Absicht, versteht sich – und sagte:

      ›Die Deutschbalten sind bei uns in Estland ein recht unbeliebtes Völkchen.‹

      Vater sagte: ›Äußerst bedauerlich. Ich kann mir vorstellen, dass sensiblere Menschen es inmitten dieser Intoleranz von Zeit zu Zeit schwer haben. Demnach würde ich es vollkommen verstehen, wenn Sie sagen, dass die Intoleranz vor Ort der Grund für Ihren Umzug nach Deutschland war.‹

      Daraufhin nahm Schmidt die Zigarre aus dem Mund und sagte: ›Hören Sie, ich bin kein Deutschbalte! Ich bin stattdessen einer der … Intoleranten, wenn Sie wollen.‹ Somit konnte Vater nichts anderes sagen als Ach so – mit langem O, ganz nach seiner Art – und sich in Gelächter retten. Ich war nach unserem Malheur ein wenig beschämt und fuhr dazwischen: ›Herr Schmidt kommt meines Wissens von der Insel Nargen bei Reval, nicht wahr?‹

      Vater nutzte den Moment – natürlich wusste er das selbst – und lenkte die Unterhaltung auf die Charakterfestigkeit von Menschen, die von der Küste, insbesondere von einer Insel, stammten. Und so weiter und so СКАЧАТЬ