Gegenwindschiff. Jaan Kross
Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Gegenwindschiff - Jaan Kross страница 13

Название: Gegenwindschiff

Автор: Jaan Kross

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783955102630

isbn:

СКАЧАТЬ – seine Nargennarrheit – schon seinerzeit bekannt. Und wissen Sie, das sticht auch bei seinem Mythos ins Auge. Als Sie mich anriefen und erzählten, dass Sie mit mir über Schmidt sprechen wollen, sah ich in unserem Archiv nach (das wir beim Brand der alten Fabrik 1943 glücklicherweise retten konnten) und ging die Unterlagen zu Schmidt durch. Die Insel Nargen, seine Narreninsel, wie ich sagen würde, spukt bis heute in den ganzen Schmidtiana umher. Ja, ja. In dem einseitigen Nachruf, den Professor Schorr nach Schmidts Tod vor fünfzig Jahren für die Zeitschrift »Astronomische Nachrichten« verfasst hat, wird Nargen zweimal erwähnt. In der feierlichen Eröffnungsrede der wissenschaftlichen Konferenz, die anlässlich Schmidts 100. Geburtstages stattfand, erwähnte der Rektor der Universität Hamburg – ich kann mir den neumodischen Kram nicht merken, wie so einer jetzt heißt – Nargen zweimal. Und so weiter. Ganz zu schweigen davon, dass Nargen als Schmidts Geburtsort in den Grabstein aus Granit gemeißelt wurde, den ihm seine Kollegen aufstellen ließen. Ich frage: Weshalb erwähnen Menschen, die im Grunde überhaupt keine Ahnung davon haben, immer wieder diese Insel in Verbindung mit seinem Namen? Meine Antwort: Weil er selbst ununterbrochen davon sprach. Das ist natürlich relativ gemeint, nicht? Denn, verstehen Sie, in Anbetracht seiner Wortkargheit musste einem diese ständige Nargen-Leier ins Auge stechen. Oder besser gesagt ins Ohr. Dieses Steckenpferd – seine Steckeninsel, wenn Sie wollen – hatten mehrere aufmerksame Kollegen meinem Vater gegenüber erwähnt, und Vater nutzte diese Gelegenheit. Er erklärte, dass wir, die Familie Kelter, nämlich auch in gewisser Weise Inselmenschen seien. Woraufhin ich mir dachte: Woher zum Teufel hat er das nun wieder?! Wir haben mit Inseln nichts zu schaffen, außer dass wir ein altes und seit Urzeiten vermietetes Sommerhaus auf dem Kaninchenwerder im Schweriner See besaßen … Aber genau das war es, was Vater im Sinn hatte. Mehr brauchte er nicht! Und ich kann bestätigen: Er sprach vollkommen sachlich und überzeugend davon, wie ihm seine Besuche auf der kleinen Insel bei organisatorischen und wissenschaftlichen Problemen geholfen hatten, wie er dort zu Erquickung und Konzentration gefunden hatte. Er fügte vorsichtig hinzu: ›Unter unseren Fenstern gab es natürlich kein Meeresrauschen wie bei Ihnen, sondern nur das Plätschern des Sees. Dafür aber selbst im tiefen Herbst späte Sommergäste beim Spazieren. Ja, und doch kann ich Ihre Zuneigung für Nargen bestens nachvollziehen. Besonders, wenn ich daran denke, wie sehr das bisschen mehr an Individualismus, das die Insel bietet, meine eigene Fantasie angeregt hat. In der Tat. So muss ich meiner Insel für meine immer noch recht agile Vorstellungskraft danken …‹ Derlei unerwartete Assoziationen waren typisch für meinen Vater. Und umso typischer, je dringender er etwas erreichen wollte. In diesem Fall besonders, da Schmidt – ich befürchtete, er würde die Ausführungen meines Vaters jeden Moment belächeln – der Inselfantasie meines Vaters durch den Zigarrenqualm hindurch lauschte, und das nicht nur ohne zu lachen, sondern sogar recht gewogen.

      Vater schob seinen leer gegessenen Teller Rinderbraten beiseite und goss Schmidt und sich selbst die Schnapsgläser voll. Frau Bretschneider brachte uns Kaffee, Vater erhob das Glas auf Schmidt, sie stießen an, und daraufhin legte Vater die Karten auf den Tisch:

      ›Aber Herr Schmidt, trotz dieser ausreichend agilen Vorstellungskraft, von der ich eben sprach, bleiben Sie mir ein Rätsel. Ja. Trotz der Tatsache, dass ich ein Spezialist bin, gut, verglichen mit Ihnen eher in theoretischer Hinsicht, oder gerade praktischer, ganz egal, aber ein ernstzunehmender Spezialist, nicht wahr. Trotzdem – oder auch gerade deswegen bleiben Sie mir ein Rätsel.‹

      Schmidt zog an seiner Zigarre und schwieg. Vater sprach weiter:

      ›Sie fragen sich: Inwiefern? Ich werde es Ihnen erklären. Sehen Sie, bei Ihren verschiedenen Arbeiten, die es zu Bekanntheit gebracht haben – nehmen wir als Beispiel die trivialsten, also etwa Korrekturen, die Sie an astronomischen Spiegeln großer Firmen vorgenommen haben – kann ich nicht glauben, dass sie so gemacht wurden, wie man sich hier und da erzählt. Soll heißen, mit den primitivsten Mitteln, die man sich nur vorstellen kann. Mit einer uralten Drehbank und Glasstücken, nicht wahr? Andererseits kann ich auch nicht glauben, dass die entgegengesetzten Geschichten stimmen: Dass Sie sich bislang unbekannte Berechnungs- und Schleifmethoden angeeignet haben sollen. Also, Herr Schmidt, wollen Sie mir nicht verraten, worin Ihr Geheimnis besteht?!‹

      Schmidts Mund wurde von den Fingern, die die Zigarre hielten, verdeckt, weswegen ich beim besten Willen nicht ausmachen konnte, ob unter seinem Schnauzer ein Schmunzeln aufblitzte oder nicht. Er überlegte einen Augenblick:

      ›Was für ein Geheimnis soll das sein? Die Werkzeuge sind alt. Aber die Methode natürlich neu.‹

      ›Ja?!‹, rief Vater aufrichtig begeistert, ›das klingt ja äußerst geheimnisvoll. Erklären Sie doch, was das heißt! Was für eine neue Methode ist das?‹

      Wie gesagt, wir hatten gehört, dass Schmidt angeblich so gut wie niemanden in seine Werkstatt ließ. Fremde schon gar nicht. Aber der Name von Professor Kelter war ihm natürlich nicht fremd. Und Vaters Interesse für seine Methode erschien Schmidt verdammt echt – und das war Herrgottnochmal auch der Grund, weshalb Schmidt auftaute. Nun, das kam nicht ganz unerwartet. Man kann es sich vorstellen: Das aufrichtige Interesse eines namhaften Experten und der geheim gehaltene Sachverstand eines Eremiten treffen bei einem Glas Schnaps aufeinander. Schmidt winkte Frau Bretschneider herbei:

      ›Schreiben Sie drei Korn auf meine Rechnung.‹

      ›Aber Herr Schmidt, ich habe Ihnen doch nur einen gebracht‹, korrigierte ihn die Wirtin.

      ›Zwei habe ich aus der Flasche von Professor Kelter genommen. Streichen Sie die zwei von seiner Rechnung.‹

      Vater versuchte zu protestieren, aber Schmidt war bereits aufgestanden: ›Kommen Sie und schauen Sie es sich an.‹

      Schmidt ging voran. Vater beglich eilig die Rechnung und schnappte sich die Flasche Korn vom Tresen, als er an der Wirtin vorbeiging, und steckte sie ein. Schmidts Keller lag gleich nebenan. Eine Minute später schloss er in unserer Anwesenheit die Tür des einstigen Kegelkellers auf und machte das Licht an.

      Ein langer flacher Raum. Wie zu erwarten war. Die Kegelbahn, gut eineinhalb Meter breit und ein Dutzend Meter lang, wie das so ist, nahm den Großteil des Raums ein. An den schmutzigen Putzwänden hingen Sternenkarten, Drahtrollen, Chronometer, obskure Instrumente, diverse Skizzen von Linsen, Spiegeln und Reflektoren, manche eher schief und schematisch, einige Holz- und Blechpropeller verschiedenster Größe, teils von Booten, teils von Windmaschinen, sowie zwei alte Strohhüte. Die Kegelbahn selbst war in der Mitte durchgesägt worden. Ein Stück von einem Meter Breite war entfernt worden, sodass eine Art Durchgang entstanden war. Das dem Eingang zugewandte Ende der Kegelbahn, Sie verstehen, war mit kleinen Beinen behelfsmäßig um vierzig Zentimeter erhöht worden. Daraus war ein langgezogener Arbeitstisch entstanden, übersät mit Apparaten, Büchern und Zeichnungen. Auf der tieferliegenden Seite der Kegelbahn standen offenbar selbstgebaute Geräte ohne eindeutige Funktion, jedenfalls keine Schleifgeräte, das war klar.

      Vater fragte, aus welchen Gründen sich Schmidt für so einen ungewöhnlichen Raum als Werkstatt entschieden hatte. Schmidt erklärte, dass er viele Vorteile bot: eine günstige Miete, reichlich Quadratmeter, eine mehr oder weniger horizontale Fläche, dort wo die Kegelbahn verlief.

      Vater sagte: ›Aber es ist unsagbar kalt.‹

      ›Aber konstant kalt. Wenn man die Heizkörper ausgestellt lässt. Das ist die wichtigste Voraussetzung für präzises Schleifen‹, sagte Schmidt.

      Er marschierte vorneweg ins Innere des Raums und deutete auf das große Wandregal. Darauf lagen in Reihen, allerdings nicht besonders ordentlichen Reihen, Lappen aus Sämischleder und Glasstücke, unterschiedlich in ihrer Form und offenbar auch in ihrer Härte und Qualität.

      ›Bitte‹, sagte Schmidt, meinem Eindruck nach ein wenig naiv und triumphierend, ›mein Instrumentarium.‹

СКАЧАТЬ