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Wert, teilweise sind sie – wie der Schmitt’sche Begriff – für die Beschreibung des demokratischen Verfassungsstaates als pluralistischem Sozialstaat von vornherein unpassend und allenfalls als Kontrastfolie nutzbar. Das heißt selbstverständlich nicht, dass sie für die Entwicklung neuer Staatsbegriffe keine Grundlage darstellen könnten oder sollten. Sie müssen auch keineswegs umfassend verworfen werden, jedoch auf ihre fortbestehende Tauglichkeit für die Beschreibung und Bestimmung moderner Staatlichkeit immer wieder untersucht und gegebenenfalls angepasst werden. Dass aber etwa die Integrationslehre Rudolf Smends, die Verrechtlichungsthese Hans Kelsens und auch die Jellinek’sche Zwei-Seiten-Lehre weiterhin wissenschaftlich wertvolle, ja grundlegende Beiträge darstellen – gerade auch im Hinblick auf die europäische Integration[280] –, an denen keine Allgemeine Staatslehre vorbeikommt, wird niemand bestreiten. Gleichwohl überrascht der Befund, dass es in den letzten Jahrzehnten nur vergleichsweise wenige Versuche gegeben hat, aktuellere Staatsbegriffe zu entwickeln, die die Wandlungen von Staatlichkeit in Zeiten von Globalisierung aber auch Digitalisierung angemessen zu erfassen vermögen. Seinen Grund findet das gewiss nicht zuletzt in der zunehmenden Ablösung des Staatsbegriffs als wissenschaftliche Beschreibungskategorie, die sich bereits in der Weimarer Zeit abzeichnete, als die klassische Allgemeine Staatslehre ihre Hochzeit bereits überschritten hatte. An die Stelle des Staates trat vielmehr die Verfassung, an die Stelle der Allgemeinen Staatslehre die Verfassungslehre oder schlicht das Verfassungsrecht. Als Vertreter, die sich für eine solche Aufwertung des Verfassungsbegriffs stark machten, wird man in der früheren Bundesrepublik vor allem |52|Peter Häberle und Konrad Hesse nennen können. Die mit dieser Aufwertung bisweilen suggerierte „Reinigung“ von sozialwissenschaftlichen, politischen oder (subjektiven) staatstheoretischen Einflüssen war freilich nur eine scheinbare[281] (was allerdings nur selten zu stören schien). Der „reaktionäre“ Versuch den Staatsbegriff als Reaktion auf diese Entwicklungen wiederzubeleben und dem klassischen souveränen Einheitsstaat neben oder vor der Verfassung einen eigenständigen Wert oder gar die Funktion einer Verfassungsvoraussetzung zuzuweisen wird man mittlerweile zwar als im Kern gescheitert ansehen müssen – auch weil dieser Versuch auf interdisziplinäre Verständigung praktisch vollständig verzichtete. Indes lieferte auch die „Neue Staatswissenschaft“ mit ihrem ausdrücklichen interdisziplinären und pluralistischen Ansatz keine mit wenigen Worten zu beschreibende eingängige neue Definition von Staatlichkeit für das 21. Jahrhundert. Gunnar Folke Schupperts Vorstellung der steten Veränderung des modernen Staates, des „Staat[es] als Prozess“[282] weist zwar treffend auf die Dauerhaftigkeit des Wandels moderner Staatlichkeit hin und betont damit die Notwendigkeit einer dynamischen und nicht-statischen Betrachtung des modernen Staates gerade auch durch die Allgemeine Staatslehre. Für das, was der moderne Staat in seiner gegenwärtigen Form „ist“ – auch wenn er sich kontinuierlich wandelt, hat er zu jedem Zeitpunkt auch einen aktuellen Status, der beschrieben und definiert werden kann – liefert diese Perspektive mit ihrer Betonung der „Steuerung“ und der „Governance“ im Ergebnis keine wirklich befriedigende, zumindest aber eine allzu weitgefasste Antwort. Für die Allgemeine Staatslehre ist das kein zufrieden stellender Befund. Zwar tun sich auch andere Disziplinen mit der Definition ihres zentralen Forschungsgegenstands schwer, was nicht per se als problematisch angesehen werden muss. Zu nennen wäre die Politikwissenschaft und der Begriff des Politischen. Hier gilt insofern dass, was Elif Özmen unlängst auch für die politische Philosophie festgehalten hat: „Positiv gewendet erscheinen dieser Pluralismus und die damit verbundene methodische und inhaltliche Offenheit als der angemessene Ausdruck der Komplexität und Wichtigkeit des Gegenstandes.“[283] Gleichwohl dürfte es für die jeweilige Disziplin zentral sein, dass diese Grundlagendebatte dauerhaft geführt und mit neuen Ideen und Lösungen bereichert und an die Zeitumstände angepasst wird. Das gilt auch für die Allgemeine Staatslehre, die aufgerufen ist, neue und realitätsnahe Konzepte von Staatlichkeit zu entwickeln und zur Diskussion zu stellen. Diese sollten |53|neben normativen auch aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen (Individualisierung, Digitalisierung, soziale Medien etc.) aufnehmen und verarbeiten – eine Forderung, die interessanterweise bereits Ernst Forsthoff Anfang der 70er Jahre formuliert hat (wenn auch vor allem im nostalgischen Blick zurück auf den klassisch-modernen, und von der Gesellschaft getrennten souveränen Staat).[284] Anders gewendet: Wer nicht mehr über den Staat spricht, muss sich nicht wundern, wenn die Allgemeine Staatslehre aufhört.
Ein Beispiel für ein solches Konzept stellt der von Thomas Vesting in Anlehnung an aber auch in Abgrenzung von Karl-Heinz Ladeur[285] präsentierte und zudem die Gedanken des Schuppert’schen Gewährleistungsstaats[286] aufnehmende „Netzwerkstaat“ dar.[287] Mit diesem Modell versucht Vesting die Folgen der Algorithmysierung und die darin begründete Fragmentierung der Gesellschaft in spontane Ordnungen[288] und Schwarmbildungen („Schwarmdemokratie“[289]) zu erfassen. Ergänzend wird es auch darum gehen müssen, die Verluste kommunaler und regionaler Zusammengehörigkeitsnarrative für den Begriff der und den Fortbestand von Staatlichkeit analytisch zu durchdringen. Diese Staatsdefinition oder Staatsbeschreibung, deren Anfänge nach Vesting bereits in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts zurückreichen, könnte den Ausgangs- und Reibepunkt einer modernen Allgemeinen Staatslehre bilden, die sich ihrer historisch-theoretischen Fundierung ebenso wie ihrer aktuellen Beschreibungs-, Einordnungs- und normativen Konstruktionsaufgabe bewusst ist. Das bedeutet nicht, diesen Beschreibungsversuch übernehmen oder ihn gar zum neuen Referenzmodell erklären zu müssen. Dass er im Ausgangspunkt aktuelle Phänomene der Postmoderne treffend beschreibt und im Staatsbegriff spiegelt, wird man jedoch nicht bestreiten können. Ohnehin tritt der Netzwerkstaat in Vestings Konzeption weder an die Stelle des Verfassungs- oder des Wohlfahrtsstaates, sondern ergänzt diese lediglich um eine dritte Ebene.
|54|6. Das Verhältnis von Staat und Gesellschaft
Damit ist ein Thema angerissen, das seit jeher auch Gegenstand der Allgemeinen Staatslehre war:[290] Das Verhältnis des Staates zur Gesellschaft.[291] Seit ihrer Herausbildung Ende des 17. Jahrhunderts hat sich diese Dichotomie immer wieder gewandelt. Sie darf im modernen demokratischen Verfassungsstaat nicht mehr mit ihrer strikten Entgegensetzung oder Beziehungslosigkeit verwechselt werden, die allenfalls für die Zeit des Spätabsolutismus und frühen Konstitutionalismus kennzeichnend war. Wer dies verlangt, muss tatsächlich (wie Carl Schmitt oder Ernst Forsthoff) nicht zuletzt mit der Ausweitung des Sozialstaats seit dem Ende des 19., vollends aber seit der Mitte des 20. Jahrhunderts das Ende moderner Staatlichkeit gekommen sehen. Andererseits kann aus der faktischen Identität zwischen Herrschenden und Beherrschten in einer demokratischen Ordnung nicht von einer Auflösung dieser Dichotomie gesprochen werden. Der Staat ist entgegen den Vorstellungen Konrad Hesses nicht zur bloßen „Selbstorganisation der Gesellschaft“[292] geworden. An der Unterscheidung ist vielmehr festzuhalten und insofern wird man Ernst Forsthoff folgen können: Wo diese Dichotomie aufhört, hört zumindest der demokratische Verfassungsstaat auf.[293]
Speziell für den demokratischen Verfassungsstaat vernachlässigt Hesse, dass dieser nicht nur auf Gleichheit, sondern auch auf Freiheit und zwar gerade auf Freiheit vom Staat beruht. Während in „totalen Demokratien“ die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft tatsächlich endet, wird sie im demokratischen Verfassungsstaat durch das Rechtsstaatsprinzip, insbesondere die Grundrechte[294] aufrechterhalten und gepflegt.[295] Es sichert einen |55|„Raum der Dunkelheit“ außerhalb der staatlichen Ausleuchtung.[296] Der Wohlfahrtsstaat und das Sozialstaatsprinzip haben zwar noch einmal Veränderungen hervorgebracht. Allerdings wird auch dadurch die Dichotomie nicht durchbrochen, sondern erst vollendet, solange der Staat nicht das soziale Ganze seinem Regelungsanspruch unterwirft. So verstanden steht das Sozialstaatsprinzip dann im Dienst der Freiheit und der Gleichheit, indem es einerseits die sozialen Grundlagen sicherstellt, derer es zur Ausübung der individuellen Freiheitsrechte bedarf[297] und andererseits die soziale Ungleichheit in der Gesellschaft auf einem Niveau hält, das es ermöglicht, dass sich alle Mitglieder der staatlichen Gemeinschaft auch dauerhaft als (politisch) Gleiche er- und anerkennen können.[298] Die Verwirklichung des Sozialstaatsprinzips in diesem Sinne ist dann keine Gefährdung des demokratischen Verfassungsstaates und der damit einhergehenden Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, sondern Funktionsbedingung derselben.