Название: Theorie und Therapie der Neurosen
Автор: Viktor E. Frankl
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
isbn: 9783846304570
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Es ist eine Frage für sich, wie man angesichts dieser unüberbrückbaren Kluft zwischen dem Psychischen einerseits und andererseits dem Somatischen als je einer wesensverschiedenen Seinsart die Einheit des Menschseins auch in der Theorie, in der Schau vom Menschen, im Menschenbild, bewahren und retten könne. Meines Erachtens ist dies nur möglich im Rahmen einer dimensionalontologischen Betrachtung des psychophysischen Problems. Denn solange wir von diesen Seinsarten nur in der Analogie eines Stufenoder Schichtenbaus – also etwa im Sinne von Nicolai Hartmann bzw. Max Scheler – sprechen, besteht immer noch die Gefahr, daß das Wesen Mensch sozusagen auseinanderfällt in ein Leibliches und ein Seelisches – als ob sich dieses Wesen, als ob sich der Mensch aus Leib und Seele (und Geist) „zusammensetzen“ würde. Aber wenn ich beispielsweise dieses Trinkglas, das hier vor mir auf dem Tisch steht, in die Ebene der Tischplatte hinabprojiziere, dann resultiert daraus ein Kreis, und wenn ich diese Projektion in den Seitenriß vornehme, dann resultiert daraus ein Rechteck; trotzdem wird mir nicht einfallen, die Behauptung zu wagen: das Trinkglas setzt sich zusammen aus einem Kreis und einem Rechteck. Ebensowenig nun darf ich sagen, daß sich der Mensch aus Leib und Seele (und Geist) zusammensetzt. Und aus ebendiesem Grunde dürfen das Leibliche und Seelische nicht als auch für sich bestehende Stufen oder Schichten betrachtet werden, sondern eben als Dimensionen des einheitlich-ganzheitlichen Wesens Mensch. Dann erst läßt sich diese Einheitlichkeit und Ganzheitlichkeit adäquat anthropologisch erfassen. Erst dann läßt sich auch verstehen die Kompatibilität des Inkommensurablen, die Einheit des Wesens Mensch trotz der Mannigfaltigkeit der ihn konstituierenden Dimensionen.
Halten wir also fest: trotz der Einheitlichkeit des Wesens Mensch gibt es eine prinzipielle Verschiedenheit zwischen dem Somatischen und dem Psychischen als seinen Konstituentien (das für ihn wesentliche Konstituens: das Geistige – werden wir sogleich zu besprechen haben). Daran ändert auch nichts, daß es zwischen Psychogenese und Somatogenese nur graduelle Unterschiede gibt. Mein Lehrer Oswald Schwarz pflegte in diesem Zusammenhang folgendes Schema zu entwerfen (Abb. 5):
In diesem Schema bedeuten die Vertikalen verschiedene Krankheiten mit einem je nachdem größeren oder kleineren psycho- bzw. somatogenen Anteil. Eine Krankheit ist also immer nur mehr oder weniger psycho- bzw. somatogen. Ihr diesbezüglicher Stellenwert im Rahmen des obigen Schemas ist demgemäß ein verschiedener, und die eine Krankheit darstellende Vertikale ist verschieblich; aber als starre und scharfe Grenze bestehen bleibt die Diagonale – das heißt: die Grenze zwischen dem psychischen und dem somatischen Bereich als solchem, als je einer ontologischen Region, als je einer anthropologischen Dimension.
Abb. 5
Im übrigen gilt folgendes: Mag auch jede Krankheit noch so sehr immer beides: sowohl eine psycho- als auch eine somatogene Komponente aufweisen, bloß in wechselndem, gegenseitigem Verhältnis – so ist für uns als Ärzte, als Therapeuten, vom pragmatischen Gesichtspunkt aus das Wichtigste ja nicht einmal, wieviel Psychogenese und wieviel Somatogenese im konkreten Fall in die Ätiologie eingegangen sind; sondern für uns von Bedeutung ist: was jeweils primär vorliegt – ob Psychogenese oder Somatogenese. Der alte weise Spruch: qui bene distinguit, bene docet – ließe sich in diesem Sinne, nämlich im Sinne unserer Forderung nach einer gezielten Therapie, variieren, indem wir sagen: Qui bene distinguit, bene curat.
Man wende nun nicht ein, daß doch von einer primären Psychobzw. Somatogenese niemals die Rede sein könne, da ja in jedem einzelnen Fall die psychischen und somatischen Kausalkomponenten sich zu einem Kausalring zusammenschließen, so daß das Somatische vom Psychischen ebenso wie das Psychische vom Somatischen immer mitbedingt werde. Dieser Einwand besteht nämlich insofern nicht zu Recht, als von einem Kausalring nur gesprochen werden kann bei einer Querschnittsbetrachtung des Krankheitsgeschehens – während eine Längsschnittbetrachtung alsbald ergibt, daß es sich in Wirklichkeit um eine Kausalspirale handelt, das heißt, es läßt sich im konkreten Einzelfall sehr wohl entscheiden, wo das Zirkelgeschehen seinen Ausgang genommen hat – ob im psychischen oder im somatischen Bereich – mag es späterhin auch noch so sehr zu einem Einanderbedingen des Psychischen und des Somatischen gekommen sein. (Es verfängt auch nicht der Einwand, daß unsere Frage nach dem, was da primär psycho- bzw. somatogen sei, an die Frage erinnere, was früher da war, ob die Henne oder das Ei, denn im konkreten Einzelfall, im Falle der hier vor mir sitzenden Henne und des hier vor mir liegenden Eies, könnte ich sehr wohl entscheiden, was das Frühere gewesen sei.) Der Kausalring stellt also nur eine Projektion der Kausalspirale dar, das heißt, die Subtraktion einer Dimension, im vorliegenden Falle: der Dimension der Zeit.13
Kehren wir nunmehr zum Ausgangspunkt unserer Überlegungen zurück, so können wir die Neurose definieren als eine psychogene Erkrankung, aber mehr als dies, als eine primär psychogene Erkrankung. Zumindest gilt diese Definition von der Neurose im eigentlichen Sinne – also nicht von Pseudoneurosen – oder, wie wir auch sagen können, von der Neurose im engeren Wortsinn.
Wenn wir aus unserem Schema 4 das rechte untere Feld sozusagen herausvergrößern, dann ergibt sich, daß es sich bei den Organneurosen – als psychogenen phänosomatischen Erkrankungen – jeweils um die Auswirkung von Psychischem im somatischen Bereich handelt. Wenn wir nun diesem Fall einer echten (Organ-) Neurose gegenüberstellen Pseudoneurosen, also Neurosen nicht im eigentlichen Wortsinn, sondern in einem weiteren Sinne, dann hätten wir zunächst zu unterscheiden zwischen „Auswirkung“ und bloßer „Auslösung“. (Diese Unterscheidung zwischen Auswirkung bzw. Verursachung einerseits und andererseits bloßer Auslösung ist nicht nur wichtig in bezug auf Neurosen, sondern auch auf Psychosen: die Psychosen als somatogene [phänopsychische] Erkrankungen können unter Umständen – trotz dieser ihrer prinzipiellen Somatogenese – sehr wohl auch vom Psychischen her ausgelöst sein.)
Es gibt nämlich auch Erkrankungen, die vom Seelischen her nur eben ausgelöst sind – und nicht eigentlich verursacht, somit nicht eigentlich seelisch bedingt, nicht psychogen im engeren Wortsinn. Erkrankungen nun, die vom Seelischen her nicht verursacht, sondern bloß ausgelöst sind, bezeichnen wir als psychosomatische Erkrankungen (Abb. 6).
Auch ist es möglich, daß es sich wohl um eine echte Auswirkung handelt, aber nicht – wie im Falle der echten Organneurose – um die Auswirkung von Psychischem im somatischen Bereich, vielmehr umgekehrt um eine Auswirkung von Somatischem im psychischen Bereich. Wie wir bereits wissen, sind solche Erkrankungen – unserem Schema 4 gemäß phänopsychisch und somatogen – ex definitione Psychosen; im besonderen Zusammenhang, in dem wir nunmehr von solchen phänopsychisch-somatogenen Erkrankungen sprechen, handelt es sich jedoch vorwiegend um Funktionsstörungen vegetativer und endokriner Art, die mitunter monosymptomatisch verlaufen und deren Monosymptom eben ein psychisches ist, und in diesem Zusammenhang wäre es natürlich ausgeschlossen, solche Erkrankungen als psychotisch zu qualifizieren. (Vergleiche jene Fälle, die Hans Hoff im Auge hat, wenn er von „angeborenen oder erworbenen Anomalien der vegetativen Reaktionen“ spricht, bei denen „der Patient nach der sympathischen oder parasympathischen Richtung ausschlägt“ und bei denen „Anomalien des innersekretorischen Drüsenkonzeptes eine Rolle spielen“.) Wir sehen also bewußt von Psychosen ab, und wir dürfen dies auch, da wir ja bloß von Neurosen und Pseudoneurosen oder von Neurosen im engeren und weiteren Sinne zu sprechen haben. Nun, neurosenähnliche Zustände, bei denen es sich um die Auswirkung von Somatischem im psychischen Bereich handelt, СКАЧАТЬ