Die Ungerächten. Volker Dützer
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Название: Die Ungerächten

Автор: Volker Dützer

Издательство: Автор

Жанр: Триллеры

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isbn: 9783839268742

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СКАЧАТЬ der Durstenden wandten sich ab, legten sich bäuchlings auf den Boden und soffen wie Hunde aus Pfützen. Pawel stolperte in den Straßengraben. Er schöpfte mit der hohlen Hand schmutziges Regenwasser und trank. Dann kroch er frierend und hungrig auf die Straße zurück und rollte sich auf dem nassen Asphalt zusammen. Kurz darauf war er vor Erschöpfung eingeschlafen.

      Beim ersten Schimmer des Tageslichts ging es weiter. Teile der Wachmannschaften hatten die Nacht zur Flucht genutzt. Die Angst vor den Russen war größer als die Angst, als Deserteur aufgegriffen zu werden. Theissen sammelte seinen geschrumpften Trupp um sich und trieb die Menge unbarmherzig an. Wer nicht schnell genug auf den Beinen war, den traf ein Knüppel oder gleich eine Kugel. Kaum hatte sich der Zug in Bewegung gesetzt, da erfüllte ein bedrohliches Summen die Luft und schwoll zu einem Dröhnen an. Zwei Jagdflieger rasten im Tiefflug über die weite Ebene. Sie wendeten und kehrten zurück, schossen jedoch nicht. An ihren Heckleitwerken leuchteten rote Sowjetsterne. Pawel sah, dass Theissen und Bolkow blitzschnell in den Graben sprangen. Ein paar Häftlinge winkten tatsächlich und riefen aus heiseren Kehlen: »Hurra!«

      Wozu das alles?, dachte Pawel. Warum machen sich die Nazis nicht aus dem Staub? Warum quälen sie uns noch immer, wo es doch längst vorbei ist?

      Sie marschierten einen weiteren Tag und einen dritten, immer Richtung Nordwesten. Träge rechnete er nach. Wenn sie am Tag etwa dreißig Kilometer zurücklegten, mussten sie inzwischen in der Nähe von Wittstock/Dosse sein.

      Am frühen Abend erreichten sie den Belower Wald. Man errichtete ein provisorisches Lager, SS-Posten umstellten das Waldstück und überließen die Menschen sich selbst, ohne für Unterkunft oder Nahrung zu sorgen. Hier hatte Pawel unbeschwerte Kindheitstage verbracht, kannte jeden Baum und jeden Strauch.

      Da die Zahl der Wachen ständig sank und es nicht mehr genug Stacheldraht gab, um das gesamte Gelände abzusichern, hätte er sich davonschleichen können, doch er wollte seinen Vater und Milena nicht im Stich lassen. Seine so gewonnene Freiheit wäre mit Schuld belastet gewesen. Also blieb er und hoffte, obwohl es längst nichts mehr zu hoffen gab.

      Mit Einbruch der Dämmerung hörte der Regen schließlich ganz auf. Sie lagerten auf Wiesen und Lichtungen, eine Kontrolle der Massen durch die SS war kaum mehr möglich. Immer größere Gruppen von Häftlingen flohen im Schutz der Dunkelheit.

      Wieder gab es kärgliche Rationen: verschimmeltes Brot, einen Becher Suppe, die fast nur aus Wasser bestand, aber wenigstens den Durst löschte. Pawel streifte zwei Stunden umher und suchte nach seiner Familie. Er fand sie nicht.

      Am nächsten Morgen kamen drei Lastwagen an, aus denen Offiziere der Waffen-SS sprangen. Sie teilten die Menge in Gruppen von je dreihundert Gefangenen ein. Theissen fuhr mit einem Kübelwagen davon. Ein junger Soldat – ein halbes Kind noch – stieß Pawel vorwärts. Der Zug setzte sich abermals in Bewegung und gelangte nach einstündigem Marsch in eine geräumte Kaserne. Die Häftlinge wurden auf die Baracken verteilt, aber der Platz reichte nicht für alle. Hunderte schliefen im Freien auf dem Appellplatz.

      Pawel war einer der Letzten, die es schafften, in eine der Bretterbuden zu gelangen. Bolkow baute sich vor dem Eingang auf und schrie nutzlose Befehle, die niemand mehr befolgte. Pawels Eingeweide zogen sich vor Hunger schmerzhaft zusammen. Er rollte sich in eine freie Ecke unter einem Fenster und blickte durch die schmutzige Glasscheibe auf ein kleines Stück des Himmels. Was würde nun geschehen?

      Aus dem Augenwinkel sah er, dass drei ausgezehrte Gestalten auf Bolkow zutaumelten, ihn umringten und um Essen bettelten. Der Kapo schlug einen von ihnen nieder und rief nach Verstärkung. Theissen betrat die Baracke, zog seine Waffe aus dem Holster und erschoss die beiden anderen Gefangenen. Das Töten war für ihn zu einer beiläufigen, alltäglichen Sache geworden. Danach bat niemand mehr um Essen oder Wasser.

      Pawel dämmerte dahin und verlor jegliches Zeitgefühl. Als ihn der Hunger weckte, war es dunkel geworden, Regen prasselte auf das Barackendach. Der undichte Fensterrahmen klapperte im Wind, kalte Luft strich durch die Ritzen und hüllte Pawel in eine eisige Decke. Die Stille wurde vom Seufzen und Jammern der Verhungernden unterbrochen. Durch den Spalt des Fensterrahmens kroch Zigarettenrauch, zwei Männer unterhielten sich leise. Es waren Bolkow und Theissen.

      »Es ist also abgemacht?«, fragte der Kapo.

      »Wenn du deine Arbeit gut machst, bekommst du Sachen aus der Kleiderkammer. Ich warte im Wald hinter der Scheune«, antwortete Theissen. »Und dann nichts wie weg.«

      »Warum der Aufwand?«, fragte Bolkow.

      »Glaubst du wirklich, die SS ist scharf darauf, dass die Russen herausfinden, was wir hier mit den KZ-Häftlingen machen? Das darf niemand jemals erfahren. Morgen Mittag, wenn die Scheune brennt, ist das Problem beseitigt. Wir müssen uns vorher passende Sachen raussuchen. Lade jetzt die Benzinkanister auf. Pass auf, wir …«

      Ein Windstoß drückte den Fensterrahmen in die Zarge, nur abgehackte Wortfetzen drangen noch herein. Pawel blickte sich um. Keiner der Schlafenden ahnte etwas. Nicht wenige glaubten, dass die Terrorherrschaft der Nazis in ein paar Tagen oder Stunden vorbei sein würde.

      Warum hatte ihn das Schicksal dazu ausersehen, als Einziger die Wahrheit zu erfahren? Was er zufällig mit angehört hatte, ließ keinen anderen Schluss zu: Die Nazis ließen niemanden am Leben, weil sie es sich gar nicht leisten konnten. Sie würden jeden Beweis ihrer abscheulichen Verbrechen beseitigen.

      Schwankend richtete Pawel sich auf. Er war so schwach, dass er sich kaum auf den Beinen halten konnte, dabei war er zu Beginn der Lagerhaft einer der Kräftigsten gewesen. Nun schlotterte der Drillich um seinen ausgezehrten Körper. Auch wenn er die etwa achtzig Gefangenen warnen würde, die in der Baracke zusammengepfercht waren, was sollten sie unternehmen, unbewaffnet und all ihrer Energie beraubt? Nur ein Wunder konnte sie retten, und seinen Glauben an das Eingreifen Gottes hatte Pawel längst verloren.

      Er rutschte kraftlos an der Bretterwand herab und verharrte in der Dunkelheit. Als der neue Morgen graute, kauerte er noch immer unter dem Fenster, gelähmt von der Hilflosigkeit und dem schrecklichen Konflikt, der in ihm tobte. Sollte er den anderen mitteilen, was er wusste? Oder war es besser, sie ahnten nichts, weil sie ohnehin sterben würden?

      Motorenlärm riss ihn bald darauf aus seiner Starre. Bolkow stieß die Tür auf und betrat in Begleitung mehrerer Männer in Wehrmachtsuniformen die Baracke.

      »Alle Mann raus und antreten!«, brüllte er.

      Etwa ein Drittel der Häftlinge war zu schwach, um aufzustehen. Die SS prügelte sie aus den improvisierten Schlafstellen und trieb sie nach draußen. Auf dem Appellplatz standen mehrere Laster und Fuhrwerke. Die Wachmannschaften aus Sachsenhausen hatten Verstärkung durch Wehrmacht und Volkssturm bekommen, überall patrouillierten SS-Männer mit Schäferhunden.

      Wer nicht mehr laufen konnte, wurde von den Soldaten wie Vieh auf die Fahrzeuge verladen. Türen wurden zugeworfen, Motoren dröhnten auf. Pawel bewegte sich mechanisch wie eine Maschine.

      Während des etwa einstündigen Marsches versuchten erneut mehrere Häftlinge zu fliehen. Zwei Männern gelang die Flucht in den nahen Wald. Die, die es nicht schafften und von den Kugeln der SS durchsiebt wurden, zählte er nicht. Bolkow wich nicht von seiner Seite, aber Pawel wäre ohnehin nicht geflohen. Lieber ging er mit seiner Schwester und seinem Vater in den Tod, als sie im Stich zu lassen.

      Der Wald lichtete sich und machte einer weiten Ebene Platz. Inmitten brachliegender Felder erhob sich eine große Scheune aus roh behauenen Brettern mit einem Wellblechdach. Männer des Volkssturms klappten die Seitenteile der offenen Laster herunter und trieben die Menschen mit Knüppeln von den Ladeflächen.

      Endlich СКАЧАТЬ