Название: Die Ungerächten
Автор: Volker Dützer
Издательство: Автор
Жанр: Триллеры
isbn: 9783839268742
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Bolkow klapperte mit dem Axtstiel an den Streben der Schlafpritschen entlang und drosch auf jeden ein, der nicht schnell genug auf den Füßen stand.
Ganz gegen seine Gewohnheit betrat nun SS-Hauptscharführer Gerhard Theissen die Baracke. Pawels Ahnung, dass etwas Besonderes bevorstand, wurde zur Gewissheit. Theissen wippte auf den Fußspitzen, verschränkte die Arme hinter dem Rücken und sah ungeduldig zu, wie die Wachen und Kapos die Häftlinge aufscheuchten.
»Raus! Alle raus! Beeilung, wird’s bald? Ich werde euch Beine machen, faules Pack!«
So schnell sie konnten, stürmten die Gefangenen aus der Baracke. Am Ausgang entstand ein wildes Gedränge, das Bolkow dazu nutzte, um auf die Wehrlosen einzuprügeln. Er zerrte Pawel am Ärmel, der in Windeseile aus dem Bettgestell gesprungen und in die zerschlissenen Schnürschuhe geschlüpft war.
»Los, los! Antreten zum Appell!«
Pawel stolperte ins Freie und rannte auf den riesigen Platz zu. Aus allen Teilen des Lagers strömten Häftlinge herbei und stellten sich in Reihen auf. Pawel ordnete sich in seinen Block ein und hielt Ausschau nach seinem Vater. Wie auch seine Schwester Milena war Josef Kowna zeitgleich mit ihm ins Lager gekommen. Seitdem hatte er beide nur zweimal gesehen, das letzte Mal vor einem Monat. Er wusste nicht, ob sie überhaupt noch lebten. Milena war jung und kräftig, aber Josef ein kränklicher, alter Mann, der den unmenschlichen Bedingungen im Lager nicht gewachsen war. Pawel war darum in höchster Sorge um ihn.
Die Posten trieben die letzten Nachzügler auf dem Appellplatz zusammen. Pawel fröstelte in der kalten Luft, der Regen durchnässte seinen gestreiften Drillichanzug. In Gruppen von fünfhundert Häftlingen eingeteilt und vor Kälte und Furcht zitternd, warteten sie über eine Stunde auf Befehle. Wer seinen Platz verließ oder zusammenbrach, wurde umgehend erschossen, das war jedem klar. Pawel sah zu dem Turm neben dem Hauptgebäude hinüber. Auf der Plattform stand ein Maschinengewehr, mit dem die SS den gesamten Platz bestreichen konnte.
Die brodelnde Unruhe unter den Verzweifelten drohte in Panik umzuschlagen. Dies war kein normaler Morgenappell. Wachen und Offiziere liefen hektisch umher, unter ihnen der verhasste Theissen.
Sie räumen das Lager, schoss es Pawel durch den Kopf. Er hatte den Gedanken kaum zu Ende geführt, als die ersten Gefangenen seines Blocks sich unter den Befehlen der Wachposten in Bewegung setzen mussten. Schlamm spritzte von den Reifen eines offenen Wagens auf, der über den durchweichten Appellplatz raste. Walter Schmidtke, Kaindls wegen seiner Gewaltexzesse verhasster Adjutant, saß am Steuer, sein Chef auf dem Rücksitz. Kaindl hatte sich in seinen schwarzen Ledermantel gehüllt und die Schildmütze mit Reichsadler und Totenkopf in die Stirn gezogen. Dem Horch folgten drei Kübelwagen, besetzt mit den oberen SS-Rängen. Die Mörder setzten sich ab.
In der Ferne rollte der Donner des Geschützfeuers der Roten Armee über den Horizont. Pawel schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass die Soldaten rechtzeitig eintrafen, um ein Massaker zu verhindern.
Jemand verpasste ihm einen Stoß zwischen die Schulterblätter, der ihn beinahe zu Boden warf. Die Kapos schrien Befehle, die Menge kam in Bewegung. In Viererreihen marschierten sie auf das Tor zu. Ein Raunen griff um sich.
»Wohin bringen sie uns?«
»Werden sie uns freilassen?«
»Nein, sie werden uns töten. Uns alle. Niemand wird überleben, sie wollen keine Zeugen.«
Die Wachen begleiteten den Zug. Mit Pistolen und Gewehren bewaffnet, brüllten sie Befehle, knüppelten wahllos auf die Marschierenden ein und erstickten die zunehmende Unruhe unter den Gefangenen. Auch sie waren nervös. Außer Kaindl und Theissen schien niemand zu wissen, wohin es ging.
Sie marschierten etwa eine Stunde, da fielen die ersten Schüsse. Pawel sah mehr als einmal die Schwächsten stolpern und zu Boden stürzen. Wer liegen blieb, wurde erschossen. Er dachte an seinen Vater und stellte sich auf die Zehenspitzen, um die Kolonne besser überblicken zu können, aber er konnte weder ihn noch Milena entdecken.
Gegen Mittag erreichten sie eine Anhöhe. Pawel blickte zurück und sah einen endlosen Zug zerlumpter und ausgemergelter Gestalten in der gestreiften Häftlingskleidung, ein unendlich müder Wurm, der vor Erschöpfung kaum kriechen konnte. Er schätzte die Zahl der Elenden auf mehrere Tausend.
Wenigstens habe ich Schuhe an den Füßen, dachte er. Den Männern, die hart arbeiteten, hatte man häufig welche zugeteilt. Die Frauen dagegen mussten barfuß gehen.
Noch immer regnete es in Strömen. Obwohl der April bereits zu Ende ging, fegte ein bitterkalter Wind über die weite Ebene. Der Hunger wühlte in Pawels Eingeweiden, er atmete stoßweise und achtete darauf, nicht hinzufallen. Er war stets kräftig und zäh gewesen, deshalb hatten sie ihn zur Arbeit in der Klinkerfabrik des Außenlagers eingeteilt – eine unmenschliche Schufterei, die auch die Zähesten nur wenige Monate überlebten. Wenn selbst er am Ende seiner Kräfte war, bedeutete der Marsch ins Ungewisse für seinen Vater den sicheren Tod.
Er dachte an Milena. Ob Theissen seiner Mätresse das Privileg warmer Kleidung gewährte? Vielleicht war er ihrer längst überdrüssig geworden. Pawel hatte seiner Schwester mit Theissens Hilfe einen Posten in der Schreibstube verschafft, in der Hoffnung, damit wenigstens ihr Überleben zu sichern. Seither verdrängte er die Vorstellung, welchen Preis sie dafür zahlen musste. Trotzdem war dies der einzige Weg gewesen, Milena das Überleben zu sichern.
Er wich einer tiefen Pfütze aus und hob den Kopf, um in den Himmel zu blicken, der sich grau und milchig über ihm erstreckte. Die Sonne blieb hinter den Wolken verborgen, und so fand er keine Möglichkeit, einigermaßen die Richtung zu bestimmen, in die sie liefen. Das dumpfe Grollen der Geschütze lag hinter ihm, demzufolge marschierten sie nach Westen. Der Westen, das bedeutete Freiheit! Es hieß, die Amerikaner hätten bereits den Rhein überquert.
Wieder hallte das Echo von Schüssen über das flache Land. Leichen blieben auf dem Boden liegen, die Überlebenden trotteten abgestumpft weiter.
Pawel schätzte, dass es später Nachmittag war, als der Zug einen Bogen beschrieb. Der Regen ließ nach, die Sonne stand nun wie ein fahler, dunstiger Fleck am Himmel. Sie liefen weiter in nordwestliche Richtung, bis es zu dämmern begann.
Plötzlich schrie Bolkow: »Stopp! Stopp!«
Der Zug kam zum Stillstand. Jeder sank dort zu Boden, wo er gerade stand. Pawel sah Gerhard Theissen, der auf einem braunen Pferd saß und sich umschaute.
Ein schlammbespritzter Pritschenwagen rumpelte vorbei. Männer und Frauen, die Armbinden des Roten Kreuzes trugen, blickten mit versteinerten Mienen auf die Elenden herab und warfen Brote in die Menge, um die sich die Kräftigsten balgten. Pawel erwischte ein knochenhartes Stück Schwarzbrot, an dem er zu nagen begann. Der Durst machte ihn fast wahnsinnig.
Ein zweiter Wagen stoppte in einiger Entfernung, endlich teilten Soldaten Wasserrationen aus. Drei Dutzend Häftlinge drängten sich bereits um die Ladefläche. Bevor Pawel den Wagen erreichte, waren die Tanks leer, der Fahrer fuhr wieder los. Auch der Laster, von dem aus die Brote verteilt worden waren, entfernte sich. Die Rationen reichten СКАЧАТЬ