Название: Die Ungerächten
Автор: Volker Dützer
Издательство: Автор
Жанр: Триллеры
isbn: 9783839268742
isbn:
Hannah lächelte. Ihre Urenkelin war eine aufmerksame Zuhörerin, und vor allem interessierte sie sich für die alten Geschichten aus Kriegstagen.
»Angefangen hat es am 22. Dezember 1939«, sagte Hannah, »in einem Klassenzimmer in Frankfurt an einem kalten Wintertag. Erinnerst du dich an die schlimmen Träume, die du als Kind hattest?«
»Ja. Du sagtest dann, ich würde im Pudding stecken«, antwortete Judith.
»Im Sirup«, verbesserte Hannah. »Mir ging es genauso. An jenem letzten Schultag vor Weihnachten erlitt ich einen epileptischen Anfall vor all den Kindern in der Klasse und vor meinem Lehrer. Du musst wissen, er war ein fanatischer Nationalsozialist. Die Nazis planten, alles Leben zu beseitigen, das sie als lebensunwert erachteten. Sie waren davon überzeugt, dass Kranke und Menschen mit Behinderung das deutsche Volk schädigen und die arische Rasse verunreinigen würden. Darum sollten diese Menschen sterben. Darum sollte ich sterben. Mein Lehrer meldete mich daher den Behörden. Deine Ururgroßmutter Malisha und ich mussten aus Deutschland fliehen.«
»Wohin seid ihr gegangen?«
»Wir kamen nicht weit. Der Mann mit der Narbe verfolgte uns, bis er uns gefunden hatte.«
»Aber du warst doch nur ein Kind.«
»Es ging ihm um Malisha«, erklärte Hannah. »Er hatte sich in sie verliebt, aber meine Mutter wies ihn ab – ein großer Fehler, denn Lubeck besaß Macht und Einfluss.«
»Ich hätte genauso gehandelt«, sagte Judith.
»Ja, sicher hättest du das«, sagte Hannah lächelnd. Was wusste dieses Kind schon von den Kellern der Gestapozentrale in Frankfurt, die sie die Villa genannt hatten, oder von den Gaskammern der Mordanstalten, vom Gestank der Öfen, in denen sie die Leichen der Ermordeten verbrannt hatten. Asche war wie schwarzer Schnee aus dem eisgrauen Himmel gefallen und hatte sich auf ihr Haar und ihre Schultern gelegt.
»Wie hat Lubeck auf die Abfuhr reagiert?«, fragte Judith.
»Er nahm sich mit Gewalt, was er haben wollte.«
»Hat er Malisha gezwungen, ihn zu heiraten?«, fragte Judith schockiert.
»Sie zog es vor, für ihre Überzeugungen zu sterben. Malisha wurde verhaftet, weil sie den Nazis Widerstand leistete. Die Gestapo hat sie ermordet.«
»Das wusste ich nicht«, sagte Judith betroffen. »Ich weiß so wenig über diese schlimme Zeit. Was hast du ohne sie gemacht? Du warst doch noch so jung.«
»Sie steckten mich in eine der Anstalten, in der sie die kranken Menschen töteten, weil ich an einer leichten Form von Epilepsie litt. Ich hatte Freunde, die mir halfen, sonst hätte ich nicht überlebt – Ruth und Thea, Lissy und Scott.«
»Scott – das ist der amerikanische Soldat, von dem du mir erzählst hast, nicht wahr?«
»Ja. Lubeck hat übrigens für seine Verbrechen bezahlt, viele andere gingen straffrei aus.«
»Es gab doch die Nürnberger Prozesse«, sagte Judith.
Hannah nickte. »Die Anführer dieser Mörderbande mussten sich vor Gericht verantworten, aber viele kleine Nazis und Mitläufer sind nach Südamerika geflohen. Scott und ich haben sie gejagt, und ein paar von ihnen haben wir geschnappt.«
»Auch den Mörder von Hans?«
»Ja, auch den. Doch das ist eine andere Geschichte.«
»Erzählst du sie mir? Bitte.«
Hannah schloss die Augen und wanderte in Gedanken in der Zeit zurück.
»Alles begann am 22. April 1945 im Konzentrationslager Sachsenhausen …«
1
22. April 1945
Eine unnatürliche Stille lag über Block 13. Jede Abweichung vom gewohnten Tagesablauf ließ Pawel Kownas Herz schneller schlagen, denn sie bedeutete nichts Gutes. Er lauschte auf die Geräusche, die das morgendliche Erwachen des Lagerbetriebs ankündigten. Das Gebrüll der Kapos, wenn sie die Türen der Baracken aufrissen, das Gebell der Hunde, mit denen die Wachen patrouillierten, und das Trampeln und Scharren tausender Füße auf dem Appellplatz. Nichts davon war zu hören.
Bedeutete das Schweigen, dass der letzte Tag im Lager endlich angebrochen war? Die Anzeichen dafür waren im Lauf der Nacht deutlicher geworden, die hektische Betriebsamkeit der Lagerleitung erzeugte Unruhe unter den Häftlingen. Obwohl die Wachmannschaften alles unternahmen, um ihre aufkommende Panik vor dem Einmarsch der Russen zu verbergen, übertrug sich die wachsende Nervosität auf die Gefangenen in Block 13.
Heute war Pawels fünfhundertsiebenundvierzigster Tag im Lager. Für jeden einzelnen dieser Tage hatte er eine Kerbe in das Gestell aus rohen Brettern geritzt, in dem er mit Dutzenden anderen Häftlingen eng aneinandergepresst die Nächte verbracht hatte. Nicht viele schafften es, so lange in Sachsenhausen zu überleben. Das Glück durfte ihn jetzt nicht im Stich lassen, denn die Freiheit war nicht mehr fern.
Vielleicht erwischt es mich heute, dachte er. Sollte er der Nächste sein, den Theissen aus der Reihe zog, um seine sadistischen Spielchen mit ihm zu treiben? Auf welche Weise ihm der Tod wohl gegenübertreten würde, wenn es so weit war?
Pawel drehte sich auf den Rücken und versuchte, sich vorzustellen, wie es wohl sein mochte, wenn der Krieg zu Ende wäre. Er roch die Ausdünstungen seiner Leidensgenossen und hörte das hundertfache Atmen, das Stöhnen und ängstliche Wimmern der Schlafenden. Manche schrien des Nachts und schlugen um sich, weil die allgegenwärtige Todesangst sie in ihre Träume verfolgte. Die meisten jedoch schliefen wie Tote, weil sie zu erschöpft waren, um träumen zu können.
Über das leise Trommeln des Regens auf dem Dach der Baracke legte sich ein Geräusch, das er vor ein paar Tagen zum ersten Mal bemerkt hatte, leise und weit entfernt. Nun war es lauter, ein tiefes Donnern und Grollen, das an ein aufziehendes Gewitter erinnerte.
»Das ist Geschützfeuer«, flüsterte er.
Waren die Russen so nah? Niemand informierte die Gefangenen über den Verlauf des Krieges, doch Gerüchte über die Erfolge der Rotarmisten machten bereits länger die Runde. Die Anspannung der Deutschen bestätigte die Nachrichten, die sich wie ein Lauffeuer verbreiteten, obwohl die Lagerleitung sie zu unterdrücken versuchte. Der Terror der Nazis ging dem Ende zu. In die Hoffnung, dem Wahnsinn entfliehen zu können, mischte sich nun die Angst, noch zu den letzten sinnlosen Opfern zu gehören. Diese Furcht war nicht unbegründet, Pawel kannte die Nazis. Er wusste, was in ihren kranken Hirnen vorging. Wenn sie die Bühne der Geschichte verlassen mussten, würden sie nicht alleine abtreten, sondern alle mit in den Untergang reißen, derer sie habhaft werden konnten. Denn wenn die Welt von den ungeheuerlichen Verbrechen erfuhr, die in den Lagern verübt worden waren, würden die Sieger kein Pardon gewähren.
Chaim, der neben ihm lag, regte sich. »Hörst du das?«, fragte er leise.
»Ja. Die Russen sind da.«
»Ob sie rechtzeitig kommen werden, um uns zu befreien?«
»Ich weiß es nicht.«
Die Tür zur Baracke flog auf, der Wind fegte nasskalte Luft ins Innere. Wachmannschaften СКАЧАТЬ