Das Gemeindekind. Marie von Ebner-Eschenbach
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Название: Das Gemeindekind

Автор: Marie von Ebner-Eschenbach

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия: Reclams Universal-Bibliothek

isbn: 9783159618883

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СКАЧАТЬ sie tut ja seit einiger Zeit so ehrbar, hat ihr früheres übermütiges Wesen, ihre Gleichgültigkeit gegen die Meinung der Leute abgelegt. Die Angst und Hast, mit der sie ausgerufen hatte: »Es soll nicht heißen, dass zu uns Briefe kommen aus dem Zuchthaus«, klang dem Pavel noch im Ohr. Er meinte, das Blatt an seiner Brust brenne; er griff danach und zerknüllte es in der geballten Faust. Was brauchte sie ihm aber auch zu schreiben, die Mutter? Hatte sie noch nicht Schande genug über ihn gebracht? Sie stand zwischen ihm und allen andern Menschen. Zwischen ihn und die Vinska, die so viel bei ihm galt, sollte sie ihm nicht treten … In seinem tiefsten Innern glaubte, ja wusste er: Seine Mutter hat das nicht getan, [55]dessen man sie beschuldigt, und dennoch trieb ihn ein dunkler Instinkt, sich selbst zu überreden: Es kann wohl sein … Und aus dem schwankenden Zweifel wuchs ein fester Entschluss hervor: Ich will nichts mehr mit ihr zu tun haben. Ihren Brief zerriss er in Fetzen. Auf dem letzten, den er in der Hand behielt, waren noch die Worte zu lesen: »Deine Mutter die ärmste auf der Welt …« Das bist du, musste er doch etwas wehmütig berührt zugestehen, das bist du von jeher gewesen … Ihre große Gestalt tauchte vor ihm auf in ihrem Ernst, in ihrer Schweigsamkeit. Abends erliegend unter der Last der Arbeit, der Not, der Misshandlung, am Morgen wieder rastlos am Werke. Er sah sich als Kind an ihrer Seite, von ihrem Beispiel angeeifert, schon fast so still und so vertraut mit der Mühsal wie sie. Er erinnerte sich mancher derben Zurechtweisung, die er durch seine Mutter erfahren, und keiner einzigen Äußerung ihrer Zärtlichkeit … vieler jedoch ihrer stummen Fürsorge, ganz besonders der alltäglich vorgenommenen ungleichen Teilung des Brotes. Ein großes Stück für jedes Kind, ein kleines für sie selbst …

      Pavel begann die Fetzen des Briefes zusammenzulesen, legte sie aufeinander und betrachtete das Päckchen, ungewiss, was er damit anfangen sollte. Endlich trug er’s zum Friedhof und begrub es dort zu den Füßen der Mauer, unter den herüberhängenden Zweigen einer Traueresche.

      In seine Hütte zurückgekehrt, legte er sich hin und schlief ein und träumte von dem schönen Hemde, das Vinska für ihn genäht und das eine große Frau mit verhülltem Antlitz, in dunkle Sträflingsgewänder gekleidet, ihm streitig zu machen suchte. Das Bild dieser Frau verfolgte ihn fortan; und wenn er in mondhellen Nächten nur eine Weile unverwandt nach dem Friedhof blickte, ballte es sich [56]zusammen aus Nebel und Dunst und glitt an der schimmernden Mauer vorbei. Pavel starrte die Erscheinung mit tiefem Grauen an und dachte: Meine Mutter ist vermutlich gestorben und »meldet« sich bei mir.

      Der Vinska erzählte er von diesem Erlebnis nichts, hätte auch keine Gelegenheit dazu gehabt. Sie war unfreundlich mit ihm, guckte immer nach seinen Händen, wenn er heimkam, sagte spitz: »Schönen Dank für die Federn!« – und ging ihm übrigens schmollend aus dem Wege. – Er sah wohl ein, das würde nicht anders werden, bevor er ihr den Willen getan, und so bequemte er sich zur Erfüllung ihres kindischen Wunsches, die ihm eine leichte Sache schien. Seit Miladas Abreise stand die Pforte des Schlossgartens wieder offen von früh bis abends, und der alte Pfau stelzte unzählige Male im Tag an ihr vorbei.

      Er hatte in der Tat nur Reste seines sommerlichen Federschmucks übrig behalten, drei Prachtexemplare an lächerlich langen, von Nachwuchs noch unbedeckten Kielen. Eines Tages lauerte Pavel ihm auf, und als er ihn kommen sah, schlich er ihm nach in den Garten. Längs eines schmalen Weges, den Bäume und Büsche gegen das Haus deckten, schritt der Vogel gemächlich hin und pickte aus purer Jagdlust hie und da ein Insekt vom Boden auf. Plötzlich musste er, so leise Pavel auch auftrat, dessen Schritte vernommen haben; denn er blieb stehen, reckte mit einer raschen Wellenbewegung den Hals und wandte den Kopf seinem Nachfolger zu, wie fragend: Was willst du von mir? – Wirst gleich sehen, dachte der Bursche, und als Meister Pfau ein schnelleres Tempo einschlug, machte Pavel ein paar Sätze, glitt aus und fiel nieder, verlor aber die Geistesgegenwart nicht, sondern streckte die Hand aus und entriss mit [57]festem, glücklichem Griff dem Vogel auf einmal seine letzte Zier. Der stieß ein raues Alarmgeschrei hervor, machte kehrt, schnellte halb fliegend, halb springend empor, und ehe der noch am Boden Liegende sich besann, saß ihm das zornige Tier im Nacken und hackte mit dem harten, scharfen Schnabel auf seinen Kopf, seine Schläfen los. Es tat weh, kam dem Pavel jedoch sehr komisch vor, dass ein Vogel sich in einen Kampf mit ihm einließ. Er lachte – wohl etwas krampfhaft – und machte eine heftige Anstrengung, das Tier abzuschütteln. Aber es krallte sich mit unheimlicher Stärke fester, spreizte die Flügel, hielt sich im Gleichgewicht, und immerfort kreischend, streckte es den kleinen Kopf weit vor, die Augen seines Feindes suchend und bedräuend …

      Da wurde diesem angst … Mit beiden Händen griff er nach dem langen blauen Hals, dessen Gefieder sich unter seinen Fingern sträubte, und drehte ihn zusammen wie zu einem Knoten. Das Tier gab noch einen schrillen, verzweiflungsvollen Laut und glitt über Pavels Schulter zur Erde, wo es auf dem Rücken liegen blieb mit zusammengezogenen zuckenden Füßen. Ob tot, hatte der Sieger nicht mehr Zeit, sich zu überzeugen; denn er sah aus dem Schlosse Leute herbeikommen, raffte die Federn vom Grase auf und war wie der Blitz aus dem Garten. Draußen auf der Straße mäßigte er seine Schnelligkeit, um nicht durch sie die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden zu erregen. Das Herz pochte ihm heftig, und er dachte an den Lärm, den es im Schlosse bei der Auffindung der zappelnden Pfauenbestie absetzen würde. An der Spitze der Schar, die auf deren Geschrei nach dem Kampfplatz geeilt war, meinte er die Frau Baronin erkannt zu haben.

      [58]Eine Weile ging Pavel unbehelligt seines Weges und hoffte schon, dem Verdacht und der Gefahr entronnen zu sein, als die Rufe: »Galgenstrick, schlechter Bub!« an sein Ohr schlugen und ihn eines anderen belehrten. Hinter ihm her waren, wie er sich durch einen raschen Blick überzeugte, der schmächtige rundrückige Gärtner und zwei alte Arbeiter. »Greif aus, elendes Krüppelvolk!« höhnte Pavel und schoss vorwärts im leichten wegverschlingenden Lauf.

      Er hatte einen guten Vorsprung vor seinen Verfolgern, und als er zu rennen begann, wurde ein noch viel besserer daraus. An dem Aufsehen, das er erregte, lag ihm jetzt nichts mehr, sondern nur daran, seinen Raub in Sicherheit zu bringen. Glühend, mit funkelnden Augen stürmte er in die Hütte. Vinska stand allein im Flur und errötete vor Freude, als Pavel ihr die Federn hinreichte. Bei seinen hastig hervorgestoßenen Worten: »Versteck sie! versteck dich!« erschrak sie jedoch sehr und fragte: »Was gibt’s mit ihnen? Ich mag sie gleich nicht, wenn’s was mit ihnen gibt.« Er drang ihr das gestohlene Gut auf, schob sie in die Stube und trat selbst zum Eingang der Hütte zurück, wo er sich an den Türpfosten lehnte, die Arme kreuzte und trotzigen Mutes die Häscher erwartete.

      Der Anführer derselben war so aufgeregt, dass er nur abgebrochen seine Befehle erteilen konnte: »Packt ihn! Packt den Hund! Ins Schloss mit ihm!« rief er seinen Begleitern zu, zweien presshaften und friedfertigen Menschen, die einander ansahen und dann ihn und dann wieder einander. – Packen? war das ihre Sache? … Sie hielten sich für verdienstvolle Gärtnergehilfen, weil sie zum Rechen griffen und mit ihm auf den Wegen herumscharrten, sobald sie [59]die Schlossfrau erblickten. Den Rest des Tages lagen sie im Grase, tranken Schnaps und rauchten zuweilen; meistens jedoch schliefen sie.

      Dem Pavel wäre es nur ein Spiel und zugleich ein wahres Genügen gewesen, die Guardia anzurennen und zu Boden zu schlagen, aber um Vinskas willen und ihrer Angst vor einem Skandal verzichtete er auf diese Ergötzlichkeit und ließ sich ruhig beim Kragen nehmen, was die beiden Alten zaghaft und ohne innere Überzeugung taten. Indessen wuchs ihnen der Kamm bei der Widerstandslosigkeit, mit der Pavel sich in sein Schicksal ergab, und ein großer Stolz erwachte in ihnen, als sie den wilden Buben, dem sie sonst von weitem auswichen, als Gefangenen durch das Dorf führten. Der Gärtner, der Zeter und Mordio schrie, bildete die Nachhut, und die Straßenjugend lief mit. »Was hat er getan?« fragten die Leute. Er soll etwas erwürgt haben … Was? weiß vorläufig niemand; aber das weiß man: Der kommt ins Zuchthaus wie die Mutter, der stirbt am Galgen wie der Vater. Fäuste erhoben sich drohend, Steine flogen und fehlten, aber Worte, schlimmer als Steine, trafen ihr Ziel. Pavel blickte keck umher, und das Bewusstsein unauslöschlichen Hasses gegen alle seine Nebenmenschen erquickte und stählte sein Herz.

      Gelassen trat er in den Schlosshof und wurde sogleich ins Haus und in ein ebenerdiges Zimmer mit vergitterten Fenstern gebracht, dessen Tür man hinter ihm absperrte.

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