Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik 17. Monika Waldis
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СКАЧАТЬ wieder ein. Denn für den Augenblick jeder Messung ist mindestens eine theoretische Vorannahme als gegeben zu setzen. Um ein klassisches Muster der Feldforschung heranzuziehen: Die Ausprägung eines Faktors X beim historischen Lernen (Bildungsnähe, Sprachvermögen, Interesse, Geschlecht) kann nur ge- und ermessen werden, wenn eine je und je definierte Existenz von »Bildung«, »Sprache«, »Interesse«, »Geschlecht« immer schon vorausgesetzt wird. Jede Entwicklung von Testinstrumenten, z. B. für kompetenzorientiertes historisches Lernen auf der einen und für die entsprechenden Qualitäten der Lehrprofession auf der anderen Seite, ist von der Anerkennung der Beobachtbarkeit und kontrollierten Beschreibbarkeit eben jener Performanzen abhängig. Reflexivität kann dieses Vor-Einverständnis der Forschung mit ihren eigenen Vorannahmen bewusst machen, schafft es aber nicht aus der Welt. Es bleibt dabei: Jede Erhebung von historischen Kenntnissen oder fachlichem Urteilsvermögen benötigt zunächst einen abgehärteten Begriff vom Wissen und reasoning in der Domäne der Geschichte. Jede Überprüfung der Funktionalität von Schulbüchern verfolgt ein vorgängiges Konzept von gutem Unterricht und so weiter und so fort. Als Bestimmungsziele der Erkenntnisgewinnung kennzeichnet solche underlying assumptions allerdings zweierlei: Sie sind akademisch wie gesellschaftlich regelmäßig (höchst) umstritten und wenigstens mit den Mitteln der Empirie selbst nicht aufzudecken oder gar zu kritisieren. Sie sind im Übrigen in hohem Maße historisch. Warum spricht heute alle Welt von Identität, auch historischer (und möchte diese beschreiben, mit Merkmalen versehen, morphologisch herleiten), und nicht mehr von Emanzipation oder Autonomie, wie in den 1970er- und 1980er-Jahren? Könnte Identität nicht einfach ein gigantisches Programm sein, um den Menschen am Wachsen zu hindern?

      Ob fake news oder, fachlich gewendet, »Geschichtsklitterung«, ob gelingende Instruktion oder wirksamen Unterricht, ob historische Argumentation oder, ganz allgemein, historisches Denken – es gibt dies alles, und es wird darüber berichtet und geforscht. Aber es gibt es nur in dem Maße, wie wir mehrheitlich sagen, dass es es gibt, was wiederum bedingt, wie darüber geforscht und geschrieben wird. So bestätigte man sich um 1900 in vielerlei (meist medizinischen) Studien gegenseitig, dass Frauen zu politischem Denken nicht in der Lage seien (weshalb ihnen das Wahlrecht zu verwehren wäre), und in den bundesdeutschen 1960er-Jahren, dass »Ausländerkinder« mit Blick auf ihre »Eingliederung« (»Integration« war noch ein ziemlich unbekannter Fachbegriff) um Himmels Willen während ihrer Erziehung nichts anderes als Deutsch hören dürften.6

      Reflexiv bleiben heißt daher für mich: In jeder Forschung, jeder Studie ist lieber fünf- als dreimal zu bedenken, was man jungen Lernenden mit einer »gefundenen« Forschungsfrage immer schon unterstellt; ist zu hinterfragen, was das angeblich Feste sei, von dem das Suchlicht der Erkenntnis zurückgeworfen (eben reflektiert) wird. Schränkt mich in meiner Forschungshaltung erst ein, dass es ein bestimmtes Verständnis eines Textes, z. B. in einem Schulbuch, geben muss? Oder ist es nicht doch schon, dass ich an das – durch alle Grundlagenforschung noch nie nachgewiesene – Konstrukt des »Verstehens« eines Textes an und für sich glaube? Textanalyse und Textinterpretation, Bildbeschreibung und Bildinterpretation, Sach- und Werturteil, im Übrigen ebenso historical reasoning sind, das ist bekannt, hochartifizielle szientifische Konstrukte, noch dazu mit starken, wiewohl oft genug verkannten historischen Dimensionen, die sehr wenig mit den Denkroutinen von jungen Menschen oder Menschen generell zu tun haben, wenn sie sich eine Welt um sie herum erschließen. Richten wir empirische Forschung an ihnen aus, sagen wir immer auch, dass die Verbiegung den Vorrang einnimmt gegenüber der Begradigung. Vielleicht ist es dies, was noch für alle Zeiten dafür sorgen wird, dass Erhebungen zu fachlichem Wissen und methodischen Kenntnissen im Fach Geschichte nach fünf bis acht Jahren Unterricht so erbarmungslos schlecht ausfallen wie seit Beginn ihrer Erfindung (vgl. dafür Hamann, 2017).

      Zum veränderten, reflexiven Umgang mit dem Konstruktivismus in der Empirie gehört daneben die Sprache: Ein unbeteiligter Beobachter von außen könnte, hörte er Empirikerinnen und Empiriker nur reden, annehmen, er lausche einer militärischen Lagebesprechung, so wimmelt es von Ausdrücken aus dem Schlachten- und Kriegswesen, die offenbar in dieser Art von Forschung gute Dienste leisten: Da werden surveys – vom Feldherrenhügel – über Probandengruppen durchgeführt, denen in (wie Soldaten) »gezogenen« Stichproben zugesetzt wird; man geht »ins Feld«, um Schülerinnen und Schüler mit »(Frage-)Batterien« – also schnell feuernden Geschützen – zu beschießen; man geriert sich »explorativ« (also feindliches Gelände erkundend), man »interveniert«, gebraucht dazu »Instrumente« – ursprünglich die Ausrüstung der römischen Soldaten; Faktoren werden »geladen« – also schussbereit gemacht; »Quantität« und »Qualität« waren zuerst im Heerwesen gefragt (»Wie viele Kämpfer stehen zur Verfügung, und wie sind sie ausgebildet?«). Am Schluss wird, oft mit Bedauern, gesagt, die Ergebnisse (i. e. die Äußerungen, Performanzen, Leistungen der Probanden) ließen sich noch nicht »generalisieren«, also für den allumfassenden Klammerangriff (gewissermaßen mit »Generalfaktor«) anordnen. Ja, der Ausdruck »Empirie« selbst hat etwas mit dem altgriechischen Wort für das militärische »Auskundschaften« zu tun. Nun könnte man einwenden, das seien doch nur Wörter. Aber nicht nur Reinhart Koselleck, sondern viele andere gescheite Köpfe haben uns doch gelehrt: Gebrauchen wir Begriffe, schwingt in unserem dadurch stabilisierten Begreifen, wiewohl unterbewusst, immer deren Geschichte mit. Die alten Römer jedenfalls trauten ihrem Gott der Bewegung und des Wanderns, Merkur (der folgerichtig ebenso Gott der Reisenden, Migranten, Fahrenden wurde), auch das Befinden über den Wandel der Begriffe und des Gebrauchs von Wörtern zu. Sie hätten hier nicht an einen Zufall geglaubt: Empirie kann nur mit einem Denken und Methoden funktionieren, die aus Individuen Merkmalsträger machen und jene also vereinheitlichen, und man ärgert sich, wenn aus Messreihen einige Unfassbare, die sich nicht einfügen lassen, »heraushängen«, so wie Soldaten in der Nachhut einer Marschkolonne.

      Sicher: Das verkennt ein wenig die qualitativen Designs, wo es in der Regel nicht um die Überprüfung von Hypothesen geht, sondern um ein Fallverstehen, eine Nachzeichnung individueller, eigensinniger, autonomer Perspektiven. Aber ehrlicherweise ist es mit solcher Autonomie nicht weit her. So wie es richtig heißt, dass Schule ist, wenn Schüler und Schülerinnen den ganzen Tag Probleme lösen, die sie, zumindest der eigenen Überzeugung nach, ohne die Lehrkräfte nicht hätten, konfrontiert auch jeder qualitativ-rekonstruierende Ansatz in der fachdidaktischen Lehr-Lern-Forschung die »Beforschten« eben mit Problemen und Fragestellungen, die nicht intrinsisch motiviert sind, von denen es jedoch zugleich heißt, sie seien für den Forschungspartner von Belang: »Du musst doch eine Haltung zum Nationalsozialismus haben«, »du musst dir eine Meinung zum transatlantischen Sklavenhandel bilden«, »du musst doch die Vorzüge der Demokratie als historisch erwiesen anerkennen«. Das ist es dann, was Wittgenstein meinte, als er sagte, wir wollten in der Untersuchung gar nichts Neues in Erfahrung bringen. Denn immer schon gehen wir davon aus, dass etwas Bekanntes und Beschreibbares da ist, wir benötigen zu dessen Erweis nur die richtigen Methoden der Spiegelung – der »Spekulation«, wie man es im Mittelalter auf Latein ausdrückte. Und im Übrigen ist ziemlich klar, was als zulässig anerkannt wird und was nicht. Oder wie viel Forschung gibt es tatsächlich darüber, was Schüler im Fach Geschichte denken oder tun, wenn sie mit der Zumutung von mit Gültigkeitsansprüchen imprägnierten Geschichten in Berührung kommen? Sind sie offensiv und draufgängerisch, oder ergeben sie sich, simulieren sie fintenreich Einverständnis oder sozial erwünschte Antworten, ducken sie sich weg oder schalten sie auf Konfrontation?

      Ist empirische Lehr-Lern-Forschung also mal mehr, mal minder strenge Zurichtungsanstalt – auch wenn es einen Zweck geben mag, der manche Mittel heiligt? Das wäre nicht ganz das, weswegen wir Geisteswissenschaft, besonders Geschichte und hier vor allem historisches Lernen, veranstalten. Der Geist des Menschen lässt sich eben nicht vereinheitlichen, so wie daher auch die Wissenschaft nicht, weshalb Universitäten und eine forschende Fachdidaktik gut beraten sind, auf Diversität und Inklusion, Unabhängigkeit und Verbindlichkeit zu setzen. Und damit immer mehr und neue Reflexionsebenen einzubauen.

      3Nützlich sein

      Von der neuen Nützlichkeit der Geschichtsdidaktik im Konzert der Berufswissenschaften speziell, der Wissenschaften allgemein war zu Beginn bereits die Rede. Ein Aspekt, der dabei für die entscheidende Perspektivenerweiterung СКАЧАТЬ